Erde und Feuer 2

 
Heute werden sich viele Leser dieser Zeitung auf die Pilgerfahrt nach Toledo zum Ixmiq-Fest '61 begeben, und jene, die von ihren Freunden beraten wurden, dürften John Clays Meisterwerk Die Pyramide und die Kathedrale gelesen haben und daher mit einigen typischen Wertvorstellungen Toledos bereits vertraut sein.

Aber auf einer anderen Ebene stellt dieses Buch nur eine schlechte Vorbereitung auf die Stierkämpfe in Toledo dar; denn Clay behauptet, daß sich die mexikanische Seele nur verstehe n läßt, wenn man die indianische Pyramide und die spanische Kathedrale gegeneinander abwägt, als ob die beiden einander ausschlössen und zugleich ein Art Symbiose bildeten. Natürlich werden wir, wenn wir zum Festival fahren und bei Kilometer 303 die schönste Aussicht in ganz Mexiko erblicken, einen Augenblick lang die Pyramide und die Kathedrale einander gegenüberstellen, und wenn wir bei diesem Oberflächenkontrast stehenbleiben, sind wir in der Lage, John Clays These mit Leichtigkeit zu akzeptieren. Aber wenn wir unseren Ausflug nach Toledo so planen, daß uns Zeit bleibt, die Stadt zu besichtigen, und wenn wir die Stierkämpfe mit der nötigen Entdeckungsfreude besuchen, könnten wir auf irgendeine geheimnisvolle Weise über das wahre Mysteriums Mexikos stolpern. Dazu müssen wir die Pyramide der Altomeken besuchen, bevor wir unseren ersten Kampf sehen, und wenn wir uns dieser grausigen Opferstätte nähern, werden wir sie mit den gleichen Augen sehen wie seinerzeit John Clay, als er sie beschrieb. Da ist noch immer der rohe Steinhaufen und hoch oben der schreckliche Altar. Da ist noch immer die steile Böschung, über die einst die Leichen heruntergeworfen wurden, und der makellos blaue Himmel hat sich seit tausend Jahren nicht verändert. Die Pyramide ist der Inbegriff des indianischen Mythos.

Während wir zur Spitze des Baudenkmals aufsteigen, sehen wir wieder die Adlerkrieger, jene machtvollen Gestalten, die Clay in ihren Bann geschlagen hatten. Ihre kunstvoll gemeißelten Köpfe mit den Adlermasken gehören Männern von unbeschreiblich grausamer Entschlossenheit, und die Verschmelzung von Mensch und Tier ist eine meisterhafte Leistung sowohl in bildhauerischer wie in psychologischer Hinsicht.

Und in der Tat, wenn man von mir verlangte, das eine Kunstwerk auszuwählen, durch welches Zentralmexiko am besten gekennzeichnet ist, so würde ich jene grimmig dreinschauenden Männer wählen, halb dumpfer Krieger, halb majestätischer Adler. In ihnen ist unser altes Erbe zusammengefaßt, und indem er sie für seine Lobesrede auswählte, sprach John Clay für uns alle. Hätte er 1920 den altomekischen Stierkämpfer Juan Gómez gekannt, so würde er vermutlich zugestimmt haben, daß in Gómez die Adlerkrieger zu neuem Leben erwacht sind.

Von der Pyramide sollte man direkt zur Kathedrale weitergehen. Den schönsten Anblick bietet sie morgens in der Frühe von einem Punkt auf der anderen Seite der Plaza in der Nähe des kaiserlichen Theaters  aus betrachtet; denn nur von dieser Stelle her vermag man die großartige churriguereske Fassade aus der Zeit des Bischofs Palafox voll zu würdigen. Sie ist außergewöhnlich, diese gewundene, verschlungene, magische Ansammlung von weißem Marmor und kannelierten Säulen und steinernen Heiligen in ihren Nischen. Zweihundert Jahre lang hat man diesen erstaunlichen Brocken Architektur studiert - und dies ist in der Tat das geeignete Jahr, ihn erneut zu studieren, denn wir begehen den zweihundersten Jahrestag seiner Vollendung -, und ich glaube, daß in den kommenden Jahrhunderten der Ruhm der Kathedrale weiter wachsen und noch mehr Besucher anziehen wird. Doch ich vermute, daß sie nie jemand richtig gesehen hat oder je sehen wird; denn während man noch hinausschaut, scheint sich die Beziehung ihrer Komponenten zueinander unablässig zu verändern. Als ich sie das letzte Mal genau betrachtete, in der frühen Morgendämmerung während des letzten Ixmiq-Festes, hätte ich schwören können, den heiligen Antonius beim Tanzen überrascht zu haben. Als ich ihn direkt ansah, stand er natürlich pflichtbewußt in seiner Nische wie ein Schuljunge, doch als mein Blick weiterwanderte, erwischte ich ihn dabei, wie er hin und her tanzte und der heiligen Marguerita schöne Augen machte, die vor seinen unziemlichen Annäherungen zurückzuckte. Darin besteht die wahre Schönheit des churrigueresken Stils, wie ihn die Kathedrale von Toledo verkörpert: daß der dem unnachgiebigen Marmor und der traditionsbewußten Gotik zuruft: "Ich habe genug von Gebäuden, die steif in der Kälte stehen. Laßt uns tanzen." Und sie tanzt, diese großartige Fassade. Selbst ihre solidesten Säulen sind in Bewegung.

Natürlich wird der geneigte Leser verstehen, daß ich in Wirklichkeit nicht über die Fassaden von Toledo schreibe, sondern über den Matador Victoriano Leal; denn die Arabesken, denen er mit seinem magischen Tuch Gestalt zu geben vermag, sind gleichfalls Schreie der Sehnsucht. Und wie die Fassade, so tanzt auch dieser poetische Torero, dieser Stolz Mexikos, und entflammt unsere Herzen.

Da haben wir also die schlichte Symbolik Mexikos, säuberlich verpackt in ein einziges Stierkampf-Programm. Juan Gómez ist der kalte, gleichmütige Indianer der Pyramide, und Victoriano Leal ist der poetische Tänzer der Kathedrale, um es in den poetischen Worten unseres Besuchers aus dem Norden, John Clay, zu erklären. Doch zu meinem Bedauern muß ich Ihnen nun sagen, daß jede einzelne Schlußfolgerung, die John Clay gezogen hat, und daß es keinen schlechteren Führer für das Ixmiq-Fest gibt als ihn.

Ich sage das nicht aus Unhöflichkeit und nicht, um Clay zu kritisieren, sondern einfach darum, weil er nicht gewußt haben konnte, was wir heute wissen; er hätte seine gewaltigen und irreführenden Fehler nicht vermeiden können, aber wir schon. Dafür müssen wir uns zurück zur Pyramide begeben. Diesmal werden wir allerdings nicht die Treppe zu den grimmigen Adlerskriegern ersteigen. Wir bleiben unten, gehen ein paar Schritte nach Westen und richten unseren Blick auf die edlen Tiger, die gemessenen Schrittes auf der Terasse einherschreiten, die ihren Namen trägt. Sie verkörpern den anderen Aspekt der brutalen Pyramide, und wir müssen sie im Sinn behalten, wenn wir allzu eilig die Pyramide verurteilen. Sie steht nicht allein für Brutalität, wie uns Clay glauben machen wollte.

Die gleiche Korrektur muß an der Kathedrale vorgenommen werden, also begeben wir uns dorthin zurück und besehen nicht etwa ihre schillernde Fassade, sondern die an ihrer Seite gelegene, fast häßlich zu nennende Kapelle, in der die Indianer beten mußten, während spanische Soldaten sie mit Gewehren bewachten. So wie die brutale Pyramide eine sanfte Seite auzuweisen hat, so hatte die liebliche Kathedrale ihre Brutalität.

Um zu verstehen, was diese beiden offensichtlichen Widersprüche mit dem Stierkampf zu tun haben, insbesondere mit dem Zweikampf von Victoriano und Gómez, möchte ich Sie bitten, Mexiko jetzt zu verlassen und mich nach Madrid in einen großen Saal zu begleiten, den viele Menschen als den schönsten der Welt ansehen. Er befindet sich im zweiten Stock des Prado, Madrids riesigem Museum voller Kunstschätze, und er beherbergt unter anderem mehr als ein Dutzend großartiger Gemälde von Velázquez.

Die Hälfte der Menschen auf seinen Bildern ist hochherrschaftlichen Geblüts: Könige und Königinnen von Spanien, Prinzen und Prinzessinnen. Sie sind geckenhaft, elegant oder hochmütig. Die andere Hälfte zeigt Bauern, die sich nach der Arbeit auf den Feldern bei einem Glas Wein entspannen, oder Frauen bei ihrer Arbeit am Webstuhl, die jene Stoffe fertigen, mit welchen Spanien in der Webkunst Berühmtheit erlangt hat; diese kraftvollen Männer und Frauen leben auf spanischem Boden, trinken den Wein Spaniens, essen spanisches Brot, das sie in Olivenöl tunken. Selbst die Edelleute zeigen die typische Gleichmütigkeit des spanischen Alltags, und wenn sie auch in einem bestimmten Licht nahezu einfältig erscheinen mögen, so ist das doch eine Illusion; was Dummheit zu sein scheint, ist in Wirklichkeit jene enorme Charakterstärke, die es Spanien ermöglichte, sich jedem Fortschritt, jeder Änderung der anerkannten Lehrmeinungen und sogar den Lektionen der Neuen Welt gegenüber zu verschließen. Die naturhafte Kraft Spaniens ist nie besser dargestellt worden als in den Gemälden von Velázquez, und wenn ein Fremder mich fragen würde: "Was ist ein Spanier?", so würde ich ihn in diesen Saal führen und ihm diese erdverbundenen Männer und Frauen zeigen.

Doch wenn er danach noch fragen würde: "Ich will nicht wissen, wie ihr Spanier ausseht, ich will wissen, wie ihr seid", dann würde ich ihn in jenen kleineren, dunkleren Saal führen, in dem die Gemälde von El Greco hängen, strahlend, als würden sie von einem grünen Feuer erleuchtet. Und dort, während wir die ausgemergelten, gequälten Gestalten mit ihren schmerzerfüllten Gesichtern betrachten, würde ich sagen: "Und hier haben Sie die spanische Seele."

Beim Versuch, Spanien zu verstehen, wird man sowohl mit der Bodenständigkiet eines Velázquez als auch mit der Vergeistigung El Grecos konfrontiert, und nunmehr haben wir die wahre Dichotomie ausgemacht, die den Zweikampf von Juan Gómez und Victoriano Leal beseelt. Sie rührt weder von einem oberflächlichen Unterschied zwischen Indianern und Spaniern her, noch von dem Gegensatz zwischen dem Heidnischen der Pyramide und dem Idealismus der Kathedrale, nicht einmal vom Kontrast zwischen dem rauhen Kaktus und der triumphalen Schönheit der Agave. Es ist keine Frage von entweder/oder. Sie erwächst aus dem Konflikt, der im Leben Spaniens selbst begründet liegt. Es ist der Kampf zwischen Erde und Feuer, eine Dichotomie, die alle Menschen gefangenhält, die jedoch allein der Spanier bereit ist als offensichtliche Tatsache zur Schau zu stellen.

Es wäre ein Irrtum, leichtfertig anzunehmen, daß Velázquez und Juan Gómez die brutale, erdhafte Seite der Menschheit repräsentieren, während El Greco und Victoriano Leal für die ätherische Flamme des menschlichen Geistes stehen. Meiner Meinung nach ist der Unterschied weit subtiler als das. Velázquez´ Modelle verkörpern das menschliche Dasein mit all seinen Beschränkungen und Möglichkeiten. Seine Könige sind eitle Dummbeutel, die ein Weilchen regieren und dann Macht an andere weitergeben, die nicht weniger töricht sind als sie selbst. Seine Bauern schwitzen ein bißchen in der Sonne, werden alt und sterben, und ihr Platz wird von anderen eingenommen, die ihnen aufs Haar gleichen. Das ist der Lauf der Welt. So leben die Leute wirklich, und aus seinen Gemälden spricht ein Gefühl der schlichten Würde, das Menschen wie El Greco nie verspüren werden, genau wie in der Pyramide, von der wir gerade gesprochen haben, eine unverkennbare, simple Aufrichtigkeit liegt, mit der sich die prunkvolle Kathedrale einfach nicht messen kann. Es ist nicht so, daß sich Velázquez allein auf das Körperliche beschränkt und El Greco auf das Geistige. Diese Trennung wäre zu einfach. In Wirklichkeit verhält es sich folgendermaßen: Velázquez hat den tiefsten Sinn des Lebens dargestellt, indem er sich dem irdischen Leib widmete, wohingegen El Greco sich demselbem Ziel genähert hat, imdem er die Leiblichkeit verleugnete, sie verzerrte und mißbrauchte, und sich stattdessen auf die tiefsten psychologischen Beweggründe konzentrierte, welche den Menschen beseelen. Doch beide verfolgten haargenau das gleiche Ziel.

Ich sagte bereits, daß es die Menschen, welche die Pyramide erbauten, auch danach verlangte die Jaguar-Terrasse anzulegen, wohingegen die Priester, welche die Kathedrale errichteten, sich auch gedrängt fühlten, die rohe, klobige Freiluftkapelle zu bauen. Ebenso schenkt uns Velázquez häufig Anblicke von höchster Poesie, während sich El Greco gelegentlich nicht zu schade ist, Menschen zu porträtieren, die entschieden erdverbunden sind. Die Dichotomie, von der wir sprechen, ist also in jedem Menschen angelegt und bildet die beiden Seiten seiner Existenz. Als Spanier habe ich zu gleicher Zeit einen Velázquez und einen El Greco in mir. Als Mexikaner, der nach Toledo fährt, um sich die Stierkämpfe anzusehen, vereine ich in meinem Wesen zugleich den dummen, brutalen Gómez und den lyrischen, poetischen Victoriano Leal; und die wahre Größe der Serie von Kämpfen, deren Zeuge wir seit Beginn des Jahres geworden sind, liegt darin, daß diese beiden Männer uns Aspekte unseres eigenen geheimen Lebens enthüllen und jeder von ihnen enntscheidende Züge des anderen in sich trägt.

Diese widersprüchlichen Facetten des Menschen zeigen sich auch im Werk der großen spanischen Schriftsteller; denn wer schreibt, kommt nicht umhin, auf dem Papier einen Großteil seiner Gedanken bloßzulegen, wohingegen Künstler anderer Disziplinen das gelegentlich vermeiden oder verbergen können. Um weiter zu erhellen, worum es mir geht, werde ich mich nun kurz dem Werk der beiden bedeutendsten Schriftsteller widmen, die Spanien je hervorgebracht hat.

Ich möchte mich zunächst Federico García Lorca zuwenden, denn dieser verkörpert in physischer, intellektueller, geistiger und künstlerischer Hinsicht einen wichtigen Teil des spanischen Wesens. Sein bedeutendstes Werk war sein eigenes Leben.

Kein mir bekanntes Volk bringt der Poesie eine derartige Hochachtung entgegen wie die Spanier, und weder in Madrid noch in Mexiko City ist es ein ungewöhnlicher Anblick, daß ein Ehepaar die Straße entlangbummelt, wobei er García Lorca rezitiert und sie den Gedichtband hält. Warum gerade García Lorca die Spanier so fasziniert, ist schwer zu sagen. Seine Ungeschicklichkeit als Bühnenautor bereitet mir oftmals ein Gefühl der Peinlichkeit. Beispielsweise ist die Handlungsführung der Bluthochzeit reichlich banal, während sein Haus der Bernarda Alba sich unmittelbar von der Schauerromantik des achtzehnten Jahrhunderts herleitet. Um vollständig zu ermessen, woran es dem Spanier alles mangelte, braucht man nur seine dramaturgischen Kniffe und seine Charakterisierungen mit denen Goethes und Eugene O´Neills zu vergleichen.

Doch wenn ich Lorcas alberne Handlungen einmal beiseite lasse und mich seinen Worten zuwende, dann muß ich schließen, daß er als Poet nicht seinesgleichen hat, und das ist es, wofür wir ihn preisen und verehren. Ich frage mich, ob es jemals einen anderen spanischen Schriftsteller gegeben hat, der in so wenigen Worten die ganze Qual des Lebens zusammenfassen konnte, etwa wenn in der Bluthochzeit die Mutter des Bräutigams gesteht: "Ich habe in der Brust einen Schrei, der sich immer aufbäumt und den ich immer bändigen und ersticken muß." Und wie brilliant er die Handlung von Yerma in einem einzigen Lied zusammenfaßt, das von der geisterhaften Stimme hinter den Kulissen gesungen wird:

                Als du noch ledig warst,
                sah ich dich nicht,
                doch wenn du vermählt bist,
                werd´ ich dich finden.

Kein Wunder, daß Lorca, der so emotionsgeladen über den Stierkampf schrieb, zum anerkannten Lieblingspoeten der Plaza geworden ist; denn in dem intensiven, verdichteten Drama, das in der Arena vor sich geht, erblickte er die Zusammenfassung der Tragödie, um die es ihm ging. Als literarisches Gegenstück El Grecos stellt er das gleiche lodernde Feuer der Leidenschaft zur Schau, und dabei gewinnt - ebenfalls wie bei El Greco - sein künstlerischer Ehrgeiz die Oberhand über sein handwerkliches Können. Und das macht ihn zum Schutzheiligen von Matadoren wie Victoriano Leal, deren künstlerisches Wollen größer ist als ihre Geschicklichkeit. Und doch gibt es bei García Lorca stets noch einen weiteren Punkt. Er spricht zu uns Spaniern mit einer Wut, über die kein anderer Dichter gebietet, und wir spüren sofort die Integrität seiner Rede.

Doch wenden wir uns nun einem Schriftsteller aus weit früherer Zeit zu, einem, den ich für den größten Spanier erachte, der jemals gelebt hat, Maler, Musiker, Philosphen und Könige eingeschlossen. Das Leben des Lucius Annaeus Seneca begann 4 v. Chr. in Spanien, in jenem Jahr, als nach Meinung der Historiker auch Jesus geboren wurde. Doch vernünftig wie er nun einmal war, zog der junge Mann rasch nach Rom, wo sein wacher Geist, sein unbeugsamer Charakter und seine Begabung Theaterstücke zu schreiben, dermaßen große Aufmerksamkeit auf sich zogen, daß er in kurzer Zeit zum wichtigsten Berater Kaiser Neros wurde, und solange Seneca dieses Amt innehatte, war Nero ein beispielhafter Herrscher. Seneca verfügte obendrein über bemerkenswerte Fähigkeiten als Verwalter; er war zudem Roms führender Dramatiker, das Gewissen des Reiches und einer der brilliantesten Intellektuellen der Hauptstadt. Wir Spanier pflegen sein Andenken, weil er der erste Denker von Rang war, der sich zum Christentum bekannte und daher zum geistigen Vater des Katholizismus in Spanien wurde. Bei seinem Tode war er weltweit der berühmteste Mann, der die neue Religion angenommen hatte, und sein Rat hatte für das Römische Reich dieselbe Bedeutung wie der des Apostels Paulus für die ganze Welt. Senecas Empfehlungen beschäftigten sich allerdings mit näherliegenden Problemen: "Gott darf nicht mit Opfern und Blut verehrt werden; denn welches Vergnügen kann er aus dem Tod Unschuldiger ziehen? Er darf nur reinen Geistes und aus guten und ehrlichen Gründen verehrt werden. Für ihn brauchen keine Tempel aus hochaufgetürmten Steinen errichtet zu werden; ihm muß das Herz eines jeden einzelnen geweiht werden."

Der Einfluß Senecas auf das spanische Wesen ist täglich zu spüren, und jene Widersprüche, die ihn quälten, quälen Spanien noch immer. Er war ein Opfer heftiger Leidenschaften, und dennoch forderte er, widerstreitenden Kräften mit Ruhe und sogar Vorsicht zu begegnen. Er war der König der Stoiker und nahm nichts im Leben allzu ernst, und dennoch fürchtete er den Tod. Sein literarischer Stil war barock, doch in den wesentlichen Dingen des Alltags übte er Bescheidenheit. Ich habe mich immer als Schüler Senecas angesehen, und ich würde lieber ein halbe Stunde mit ihm reden als mit jedem anderen Spanier, der jemals gelebt hat; und dennoch irritiert mich oft sein schlichter Realismus, weil er so prosaisch sein kann. Er ist par exellence der Velázquez des geschriebenen Wortes: der leuchtende Mann der Erde.

Und damit haben wir die intellektuellen Fronten für unseren Besuch in Toledo abgesteckt: die Erde von Velázquez und Seneca in direktem Gegensatz zum Feuer El Grecos und Lorcas; der erdverbundene Stil des krummbeinigen Altomeken Juan Gómez im direkten Gegensatz zu den feurigen Arabesken des Victoriano Leal aus Sevilla. Und das Festival des Ixmiq wird uns eine klassische Konfrontation dieser beiden Prinzipien zeigen.

Aber es sind nicht die Unterschiede zwischen Seneca und García Lorca, die sie in unserem Bewußtsein als Musterbeispiele spanischen Denkens verbinden. Es ist ihre Ähnlichkeit, und wenn ich erkläre, was ich damit sagen will, wird jeder Leser verstehen, warum ich diese beiden Schriftsteller nun als Apostel des Stierkampf anführe.

Seneca und Lorca beschäftigen sich in erster Linie mit dem Tod, und jeder Spanier, ob er nun in Pamplona oder Peru lebt, ist gleichermaßen von diesem höchsten aller Mysterien besessen. Es war kein Zufall, daß in der langen Geschichte Spaniens keine zwei Spanier je einen angemesseneren Tod gestorben sind als Seneca und García Lorca. Auf der Höhe seines Ruhms, als seine Stücke die römischen Theater füllten und seine Aphorismen die Konversation der Römer prägten, wurde Seneca von dem geisteskranken Nero befohlen, Selbstmord zu begehen. Und was gelegentlich wie Schwäche in Senecas Charakter gewirkt hatte, insbesondere seine Tendenz, sein Mäntelchen nach jedem neuen Wind zu drehen, der vom Forum Romanum blies, erwies sich nun als die aufrichtige Ergebenheit des Stoikers in die Unvermeidbarkeiten des Lebens. Als für Seneca die zum Sterben kam, führte er furchtlos den Giftbecher an die Lippen, und Rom sah einen Spanier eines edlen Todes sterben. Nicht einmal Sokrates stellte sich seinem Ende mit größerer Würde.

Es wäre unverzeihlich gewesen, wenn ein Makel auf diesen ergreifenden Schlußakt gefallen wäre; denn der Tod war ein Leben lang Senecas wichtigstes Thema gewesen, und seine Philosophie ließe sich in dem Satz zusammenfassen, daß "das ganze Leben nichts als eine Vorbereitung auf den Tod ist".

Während meiner Studien habe ich eine Menge englisch-sprachige Literatur gelesen, und ich habe dabei nie einen Autor gefunden, der ehrlich überzeugt schien, daß der Mensch unausweichlich dem Tode geweiht ist und daß er eines Tages sterben muß. Die Vorstellungen der englischen Autoren von der Unsterblichkeit haben etwas an sich, das einen wütend macht, und der spanische Leser wird derartiger Werke rasch müde, weil er eine Literatur gewöhnt ist, die Tag für Tag mit dem Tode lebt. Wenn die Spanier vom Tod besessen sind, so deshalb, weil unsere größten Geister es uns so gelehrt haben. Wenn wir den Stierkampf lieben, dann deshalb, weil wir im Unterbewußtsein spüren, daß er die einzige Kunstform ist, die unsere Obsession widerspiegelt. Und darum sind die Reflexionen des Seneca so wichtig für alle, die dem Ruf der Stiere folgen. Er ist unser Philosoph und unser Vorbild, und der Tod, über den er sich so erhabene Gedanken gemacht hat, ist der gleiche Tod, den wir jeden Nachmittag in der Arena vor uns sehen.

Wenn der Tod des Seneca seinem Leben angemessen war, so faßte der von García Lorca das seine zusammen. Offenbar saß er eines Tages gemütlich in einer Weinstube, als eine Abteilung von General Francos Truppen vorbeikam, ihn verhaftete und erschoß, möglicherweise in der Annahme, er sei jemand anderes. Wir wissen nicht, wo er gestorben ist, oder wie oder aus welchem Grund.

Mir fällt kein Dichter ein, der den Tod gründlicher studiert hätte als García Lorca. Niemand hat mit tieferer Empfindung darüber geschrieben; niemand hat einen derart sinnlosen und absurden Tod gefunden. Daß er zum poeta laureatus des Stierkampfes wurde, ist höchst passend, denn er - vor allen Menschen - war von dessen tiefen Mysterien fasziniert. Am späten Nachmittag geht ein Mann mit einem wilden Stier in die Arena, und der wichtigste Mitspieler ist immer der Tod. Es gibt Musik, möglicherweise frenetischen Beifall, möglicherweise Ruhm, aber der Tod ist immer dabei. Und ein faszinierender Aspekt dieses unvermeidlichen Höhepunkts besteht darin, daß wir nicht voraussagen können, wie der Tod zuschlagen wird oder wen er trifft. Das bewies schon Nero, denn wenn sich gelegentlich ein Kampf zwischen den Römern und den Christen in der Arena als langweilig erwies oder die Löwen ihre Opfer allzuschnell zerfleischt hatten, wies er seine Wachen an, aufs Geratewohl eine Handvoll Zuschauer zu ergreifen und sie den Bestien in der Arena vorzuwerfen. So konnte sich ein Mann, der am Morgen dafür bezahlt hatte, zusehen zu können, wie Christen gefressen wurden, unversehens selbst als Teil des Schauspiels wiederfinden. Und Jahrzehnt für Jahrzehnt kommt es in den diversen Arenen der Welt gelegentlich vor, daß ein aufgebrachter Stier nicht nur die Barriere überspringt, welche die Arena begrenzt, in der er eigentlich kämpfen sollte, sondern die Zuschauer auf den Tribünen angreift und einen oder zwei davon tötet. Wie einst Neros Römer werden so jene, die dafür bezahlt haben, einen Kampf zu sehen, selbst zum Teil des Kampfes.

Und deshalb wird der Besucher des Ixmiq-Fests, wenn er einige Minuten der schlichten Symbolik der Pyramide und der Kathedrale widmet und einige Stunden über die Erde Senecas und das Feuer El Grecos nachsinnt, darauf vorbereitet sein zu verstehen, was Juan Gómez und Victoriano Leal repräsentieren, wenn sie feierlich in die Arena von Toledo einziehen.

Wenn denn meine Behauptung wahr ist, daß wir alle Spanier sind, die unerbittlich dem Tod entgegenmarschieren, so ist es nicht minder wahr, daß wir alle halsstarrige Mexikaner sind, die sich wie dumme Bauern ans irdische Dasein klammern. Unzweifelhaft sehen wir uns, wie einst Seneca, gezwungen, darüber nachzudenken, wie wir dereinst sterben werden, aber wir dürfen auch nicht vergessen, daß Seneca den größten Teil seines Lebens vom Luxus des kaiserlichen Roms umgeben war und den Tod ignorierte; noch sollten wir vergessen, daß García Lorca, dem der Tod so nahe stand wie ein Bruder, die besten Jahre seines Lebens in New York verbrachte, wo er das Leben in vollen Zügen genoß.

Wir alle sind tragische Gestalten, aber wir haben auch unsere komischen Seiten. Wie marschieren in den Tod, aber unterwegs betrinken wir uns. Ich kann weder Juan Gómez mit der Pyramide oder mit Velázquez oder Seneca identifizieren, noch vermag ich Victoriano Leal als sein Gegenbild in diesen Kategorien zu sehen. Es trifft jedoch zu, daß in meinen Augen diese beiden Matadore das Problem des Todes von unterschiedlichen philosophischen Standpunkten aus angehen, doch genau wie die Pyramide die Terrasse der Jaguare in sich birgt, so birgt jeder dieser Männer die besten Elemente des anderen ich sich.

Welchen Matador ziehe ich nun vor? Als Kind Spaniens sollte ich mich für jenen entscheiden, der dem Tod am nächsten steht, und das ist Juan Gómez, der zu töten versteht, doch ich muß eine unspanische Wahl treffen und erklären, daß ich jenen vorziehe, der am besten das feurige Herz des Lebens verkörpert, und das ist Victoriano Leal, der Gnade und Grazie kennt.

Und so gebe ich all denen, die nach Toledo reisen, jenen Segen, den der große spanische Philosoph Miguel de Unamuno uns allen spendete: "Möge Gott euch den Frieden verweigern, doch Ruhm gewähren." Meine Herren, in die Arena!



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Dr. Andreas Krumbein, 18. Dez. 2000