Die Angst des Stierkämpfers vor der Spitze des Horns

von
Bernd Kessens

Vortrag im "Bücherfrühling", Gulfhaus, Vechta am Dienstag, dem 3. Mai 1994



 

Sehr geehrte Damen und Herren, ich freue mich, Ihnen das neue Buch "Die Angst des Stierkämpfers vor der Spitze des Horns" vorstellen zu können. Aber eigentlich möchte ich mehr. Ich möchte, dass Sie mir einen Wunsch erfüllen und sich ohne Vorbehalte  für eine Stunde entführen lassen ... . Entführen in ein Land, das Sie vom Urlaub sicher schon alle einmal kennen gelernt haben: die Sonne, la playa, Granada, Cordoba, und nicht zuletzt den vino tinto.

Und darüber hinaus möchte ich Sie entführen in die Landschaft einer Seele eines jungen Mannes, des Helden dieses Romans: Pedro de Benalup de Sidonia. Ein Name, der bewusst ausgesucht wurde. Ist doch der Name des Dorfes Benalup ein in Spanien bekanntes Wort des Aufstandes gegen Unterdrückung, Untertanengeist und Haziendas. Und wenn Sie die Seele oder die Psyche dieses Jungen kennen gelernt haben, werden Sie feststellen, dass der Charakter dieses Pedro de Benalup ein Spiegelbild der spanischen Seele ist, ein Repräsentant einer Zeit, in der Spanien noch ganz anders war als heute: Autoritär vom König oder später von einem Diktator regiert, die Menschen gehorsam und ängstlich, Großgrundbesitzer mit bis zu 100.000 Hektar, dagegen die Armut der Tagelöhner und die Knochenarbeit der Bergarbeiter.

Um das Spanien von heute verstehen zu wollen, muss man das frühere Spanien erforschen: Denn das heutige Jahr ist nur das Resultat des vorigen Jahres, und wie bei den Bäumen so sieht man auch bei den Menschen die Wurzeln nicht. Gerade diese möchte ich Ihnen zeigen, diese Wurzeln. Und es sind ähnliche Wurzeln, die auch wir hier in Deutschland an uns feststellen können. Dafür habe ich die Szene Stierkampf herausgegriffen.

Der Stierkampf war und ist für viele Spanier noch immer das, was für die Schwarzen in den USA das Boxen ist, meinen viele. Für die Schwarzen die Möglichkeit, soziale Anerkennung zu gewinnen und sich frei zu machen von dem Gefühl der Minderwertigkeit. Für den Spanier ist der Stierkampf die Möglichkeit, gegen das zu revoltieren, was ihn unterdrückt: Macht und Herrschaft, und nicht nur die staatliche Macht, nicht nur die Macht des Hazienderos und des Arbeitgebers in den Minen, sondern auch die Macht in den Städten und Dörfern bis in die Familie hinein, bis hin zur Macht des Vaters.

Aber bevor ich diese Deutung des Stierkampfes erkannte, habe ich andere Fragen gestellt und andere Erlebnisse gehabt.

Meinen ersten Stierkampf habe ich zusammen mit meinem Freund Hubert 1969 in Puerto de Santa María gesehen. Wir waren als Studenten auf einer Tour rund um Spanien, und da durfte ein Stierkampf natürlich nicht fehlen. Ich habe ein Reisetagebuch geführt und damals 1969 wörtlich geschrieben: "Ich möchte nicht der arme Stier sein, und was sich der Torero von dem Kampf in der Arena verspricht, weiß ich nicht. Die Zuschauer aber sehen beim Todesstoß aus wie aficionados, wie verrückte Fanatiker." Das war damals.

1989, zwanzig Jahre später habe ich in derselben Stadt, also in Puerto de Santa María - Zufall oder nicht? - mit meinem Schwiegervater und meinen drei Söhnen wieder einen Stierkampf erlebt, und das Urteil aller stand fest: Es war ein grausiger Kampf. Außerdem war einer der Toreros so ungeschickt, dass der Stier von einem Schlachter abgestochen werden musste. Da schworen wir uns, nicht wieder in eine Arena zu gehen.

Wir waren zu Ostern auf Einladung unseres Freundes Hartwig Witte im malerischen Ort Vejer de la Frontera. Dort findet zu Ostern ein Stiertreiben statt. Die Straßen sind voll von rufenden, lachenden, schreienden Leuten, die auf die Fenstersimse, auf extra aufgebaute Gerüste, auf Zäune und Mauervorsprünge klettern und fiebrig zittern, wenn die fiesta brava beginnt. Bullfeaver - Stierfieber nennt Hemingway das. Mehrmals am Ostersonntag wird ein Stier durch die Straßen getrieben. Die jungen Männer vorneweg, tollkühn, sie reizen ihn, bespucken ihn, locken ihn, schmähen ihn,  bis es dann meist immer ein kleines Drama gibt: Einer wird auf die Hörner genommen, in die Luft geschleudert, und 1991 hat unser ältester Sohn Jan Bernd gesehen, wie der Stier einen Mann erfasste, wohl drei Meter mit den Hörnern hochwarf. Der Mann drehte sich in der Luft und fiel mit dem Kopf auf das Pflaster.

Warum tun Männer so etwas? Warum sucht man sich einen Stier, um seine Kräfte mit ihm zu messen?

Ketzerisch könnte man fragen, warum spielt man nicht lieber Schach? Bei dem  Spiel könne schließlich nicht viel passieren. Doch die Psychologie ist da ganz anderer Meinung, und wenn man ihr  glauben darf, dann hat Bobby Fischer, der wohl größte Schachspieler der Welt, - ich erinnere mich noch genau an die Weltmeisterschaft in Reykjawik gegen Boris Spasski - dann hat gerade dieser Weltmeister Bobby Fischer entgegen jeder Vernunft oft versucht, seinem Gegner die Dame, also die wichtigste Figur, anzubieten, um ihn reinzulegen. Und wenn man im Schach an die Bauern denkt, die ja aus taktischen Gründen geopfert werden, dann ist das Spiel gar nicht einmal so unblutig, wie man allgemein denkt.

Der Mensch braucht anscheinend Spiele oder Rituale oder Symbole, um mit irgendetwas fertig zu werden. In der Regel sind es Ängste, die den Menschen bedrücken. Denken Sie an Angstträume und Alpträume, die Sie selber hatten. Denken Sie an Ihre Versicherungen, an die Hausrat-, Brand-, Auto-, Glas-, Diebstahl-Versicherungen u.ä., um das Risiko oder, anders ausgedrückt, um die Angst auszuschalten. Denken Sie an die Ängste der Kinder, wenn sie nachts aufwachen, wie sie dann häufig ins Bett der Mutter krabbeln und sich an sie drücken. Und die Angst geht schnell dahin. So was haben wir alle schon erlebt.

Ich habe gerade mit großem Interesse einen Film gesehen, in dem ein afrikanischer Stamm eine ganze Nacht lang trommelte und um ein Feuer tanzte, um sich von den bösen Geistern zu befreien. Es tanzten ca. tausend Leute die ganze Nacht, um die Angst aus sich herauszuschreien, wo wir doch als moderne Menschen in der Lage sind, zum Mond zu fliegen, und denken sollten, diese Art von Angst existiere gar nicht mehr.

Wo kommt diese Angst her, die dieselbe Angst ist, die der Stierkämpfer vor der Spitze des Horns empfindet? Wenn jemand von sich behauptet, nicht ängstlich zu sein, kann man das glauben. Wenn aber jemand behauptet, keine Angst zu haben, halte ich das für eine gezielte Schutzbehauptung, um vielleicht gerade seine Angst zu verbergen.

Ich möchte das an einem Erlebnis erläutern. Bei einer nächtlichen Autopanne in Spanien trafen wir am 2.4.1991, - ich kenne das Datum deshalb so genau, weil unser Sohn Jan Bernd an dem Tag 17 Jahre wurde und wir ihm gerade im Auto "Viel Glück und viel Segen" gesungen hatten - wir trafen also um Mitternacht in einem Hotel an der Strecke Écija - Jerez de la Frontera den mutigen Stierkämpfer Jesulín de Ubrique. Als ich nicht glauben wollte, den berühmten Matador vor mir zu haben, riss der Stierkämpfer zum Beweis vor den Gästen im Hotel sein Hemd hoch. Über den Bauch verlief eine lange, breite Narbe, gerissen von dem "rächenden Horn eines Stieres". Und er sprach von seinem grenzenlosen Mut, den Stieren sozusagen ungeschützt gegenüberzutreten. Und Angst, ja Angst kenne er nicht.

Gerade aber im letzten Jahr stellte sich heraus, wie feige oder wie berechnend oder wie ängstlich dieser Jesulín gewesen war. Spanien hatte ihn gerade zum Matador des Jahres '93 gekürt - eine hohe Auszeichnung und mit der Verleihung eines Oskars zu vergleichen. Er war also gerade als Matador des Jahres '93 gefeiert worden, als die größte Tageszeitung des Landes, El País, einen skandalösen Betrug aufdeckte. Dieser mutige Jesulín de Ubrique hatte nach dem sorteo, der Auswahl der Stiere, seine Leute beauftragt, heimlich die Hörner der Stiere kürzen zu lassen.  Damit verlieren die Stiere die Übersicht, denn sie orientieren sich beim Laufen und beim Angriff an ihren langen Hornspitzen. Da diese nun gekürzt, also abgesägt, dann aber wieder angeschliffen worden waren, dass sie wie echt aussahen, hatten die Stiere die Orientierungssicherheit verloren und gingen gehandicapt in die Arena. Ein Vorteil für Jesulín de Ubrique, der natürlich nun seine Überlegenheit immer deutlicher zeigen konnte, im Grunde aber, wie die Zeitung vermutete, nur seine Angst verbergen wollte.

Warum wird also ein Mann wie Jesulín de Ubrique ein Stierkämpfer? Warum wurde der berühmte Juan Belmonte ein Stierkämpfer, und warum wurde er nicht ein Lehrer, ein Rechtsanwalt, ein Rinderzüchter oder ein Polizist? Warum waren die Stierkampfarenen bis in die Zeit der Franco-Diktatur Sonntag für Sonntag bis auf den letzten Platz besetzt? Warum springen viele Männer, die alltags im Büro sitzen, einmal im Jahr vor die Hörner der Stiere, wenn diese in den Straßen losgelassen werden?

Aus Spaß? Aus Tradition? Wegen des erwarteten Ruhmes? Mag sein. Einer in Vejer de la Frontera, der Stadt, in der das österliche Stiertreiben stattfindet,  hat mir erzählt, soweit ich sein Andalusisch richtig verstanden habe, er sei ein Mann, der vom Frühling bis in den Herbst in den Rübenfeldern arbeite. Und im Winter sei er arbeitslos. Und da wäre es schon etwas Besonderes, wenn er Ostern in der Straße von Vejer vor 30.000 Menschen sich einem Stier entgegenstellen könne. Er suchte anscheinend Anerkennung, aber ich glaube, es trieb ihn mehr. Denn Anerkennung kann er sich auch durch andere Leistungen verschaffen. Deswegen braucht er nicht auf die Straße zu gehen und Gefahr laufen, auf die Hörner genommen zu werden.

Anscheinend zieht der Stier die Spanier magisch an. Und dass das so ist, erlebt jeder Tourist, der mit offenen Augen durch Land fährt. Auf den Kuppen vieler Hügel präsentiert sich ein schwarzer überdimensional mächtiger Stier und wirbt für Osborne, den berühmten Brandy. Und wer diesen prächtigen Stier das erste Mal sieht, glaubt im ersten Augenblick sogar, er sei ein echter.

Im Fernsehen laufen während der Saison von Ostern bis zum Herbst ununterbrochen Stierkämpfe, und man wiederholt in Zeitlupe, nicht wie bei uns die Tore im Fußball, sondern die schönen und eleganten Passagen in der Arena, z. B. die veronica oder den Degenstoß recibiendo. Und der Herrgott selbst habe el piel del toro, das bedeutet die Haut des Stieres, er habe sie nur für Spanien gemacht. Denn Spanien sei so eng mit dem Stier verwachsen, dass die Geographie des Landes einer ausgebreiteten Stierhaut ähnele. Stiere werden besungen in unterschiedlichsten Liedern. In fast allen Cafés, in den vielen Straßenbars um die Ecke und von vielen Litfasssäulen kündigt ein grellbuntes Plakat an, wo und wann und welcher Matador den nächsten Kampf bestreitet. Und Pablo Picasso hat Hunderte von Bildern und Skizzen über den Stierkampf gemalt.

Der Stierkampf ist keine Sportart. Er ist ein Ritual und tief in den Seelen der Spanier verwurzelt. Doch trotz alle dem, heutzutage ist der Stierkampf im Vergleich zu anderen Massenveranstaltungen auf dem Rückmarsch. Das war vor siebzig Jahren, der Zeit, in der dieser Roman spielt, aber völlig anders. In Sevilla allein gab es 13 Fachzeitschriften, die sich mit dem Stierkampf beschäftigten. Die Arenen in Madrid, Barcelona und Sevilla waren immer ausverkauft. Sie fassten 30.000 Zuschauer.

Berühmte Toreros kamen bis auf Ausnahmen meistens aus einfachen Verhältnissen, wie auch der Held dieses Romans. Seine Geschichte ist schnell erzählt. Pedro, Sohn eines armen Landarbeiters, aufgewachsen in kargen, engen Verhältnissen, lebt zu Anfang dieses Jahrhunderts in dem kleinen andalusischen Dorf Benalup de Sidonia, in dem sich kaum einer der Dorfbewohner ein Stück Fleisch leisten kann. Als er einmal nächtens auf den Weiden des Don Felipe einen seiner Stiere tötet, muss er flüchten, um nicht wie sein Vater für dieselbe Tat ins Zuchthaus eingesperrt zu werden. Er geht nach Sevilla, schläft unter Brücken und bettelt sich sein Leben zusammen, aber immer in der Hoffnung, ein Matador zu werden. Er stiehlt sich in die Stierkampfarenen hinein, hofft auf den großen Erfolg und auf Angelina, die Tochter Don Felipes. Und eines Tages scheint er es geschafft zu haben. Wenn es da nicht diese Angst des Stierkämpfers vor der Spitze des Horns gäbe.

Um Torero zu werden, müssen besondere Bedingungen vorherrschen, so wie sie im früheren Spanien überdeutlich zum Vorschein kommen.

Es herrschte ein gutaustariertes Klima von Unterdrückung, Gehorsam, Demut und Belohnung, wenn man tat, was man vom Landarbeiter, vom Tagelöhner, vom Beamten und sogar vom Minister des Königs verlangte. Wenn man gehorchte und gehorsam seinen Dienst versah, wurde man belohnt. Dass man gehorchte, lag an der allgegenwärtigen Angst.

Der Beamte war ängstlich, wenn er ins Zimmer des Ministers trat, der Landarbeiter, wenn der Kommandant ihn rief, und die Tagelöhner warteten täglich ängstlich auf der Plaza, wenn der Verwalter der Hazienda kam und zwanzig Leute für die Rübenernte heraussuchte. Zwanzig nahm er, und die übrigen wurden nach Hause geschickt. Und das hat sich bis heute in manchen Gegenden nicht geändert. Die Arbeitslosigkeit beträgt um die 25%.

Spanien hat sich inzwischen geändert und ist unter Felipe González demokratisiert worden, doch so lange ist die Franco-Diktatur noch nicht vorüber. Zu der Zeit und vorher herrschte ein dichtes Geflecht von Angst. Dieses System begann beim König, bei der Administration, beim Diktator und setzte sich fort über die Gouverneure, die Senatoren bis ins Dorf, über die Großgrundbesitzer, über die Bürgermeister und alcaldes bis ganz nach unten in die Familie hinein. Und die Macht war männlich, auch wenn es hin und wieder Königinnen gab. Diese männliche Macht spürte jeder im Land, und auch der letzte, der unterste in der Reihe der Rangordnung spürte sie: der kleine Sohn in der Familie.

Jetzt könnte man natürlich einwenden, das sei übertrieben und diese Angst existiere gar nicht bewusst. Das mag stimmen. Denn wer die Gitarre spielenden, Flamenco tanzenden Spanierinnen und Spanier sieht, denkt mehr an la alegría, die Freude des Lebens, als an die Angst. Wer aber hinter die Fassaden blickt, spanische Filme sieht, die Literatur liest, entdeckt große Unruhe und Verunsicherung. Wo kommt sie her?

Eine Antwort gibt die Psychologie. Die größten deutschsprachigen Psychologen, Sigmund Freud, Alfred Adler, C.G. Jung sagen, in den ersten Lebensjahren sei die Angst ein für alle mal angelegt worden - bei einem mehr, bei einem anderen weniger - aber sie habe sich so stark in die Seele eingegraben, dass selbst der erwachsene Mensch sich von ganz bestimmten Angstzuständen nicht lösen könne; denn wer geht schon gerne nachts über den Friedhof, oder wer pfeift nicht, wenn er durch dunkle Wälder geht, wer kennt nicht das Phänomen der Klaustrophobie, das der Höhenangst, die Angst vor Spinnen oder die Angst vor großen Räumen.

Freud sagt, das sei in den ersten fünf Jahren angelegt worden, und es sei auch notwendig gewesen, dass der Mensch Angst entwickle, denn sie schütze ihn schließlich vor Übermut und Torheiten und mache ihn vorsichtig. Das sei der positive Effekt, der negative nimmt aber im Laufe der Jahre Überhand, und man leide unter der Angst wie unter Schmerzen. Wir hätten die prägenden Angsterlebnisse unserer Kindheit alle vergessen. Die Angst sei aber allgegenwärtig und bestände von da an in den verschiedensten Formen ein Leben lang.

Dass man alle Angsterlebnisse vergessen hat, klingt vielleicht überraschend für Sie; aber versuchen Sie einmal sich zu erinnern, welche Erlebnisse Sie in den ersten fünf Lebensjahren hatten. Auf wie viele kommen Sie. Auf fünf oder sieben? Auf mehr nicht. Dabei waren unsere kindlichen Sinne viel aktiver. Was haben wir nicht alles gelernt: Gehen, Laufen, Sprechen, mehrere tausend Wörter, Fühlen, Riechen. Wenn mir z. B. der Geruch von verbranntem Horn in die Nase kommt, egal wo ich bin, denke ich immer an die Schmiede meines Vaters zurück, wo Pferde beschlagen wurden.

Das meiste oder, genauer gesagt, fast alles haben wir aber vergessen. Unsere Klein-Kindheit ist ins Unbewusste versenkt worden. Freud sagt, wir haben zum Beispiel vergessen, dass es draußen fürchterlich grell und auch kalt war, und dass wir deshalb uns immer ins Bett der Mutter wollten. Wir wollten bei der Mutter sein. Ihr Körper war warm, sie stillte uns und gab uns ein Gefühl, das die Psychologin Karen Horney ozeanisch nennt. Ein ozeanisches Glücksgefühl. Der junge Stierkämpfer Pedro kostete diese Glücksgefühle aus. Er brauchte die Wärme, war es um ihn doch im Winter feucht, das Essen mager und die Erziehung des strengen Vaters hart.

Mit zunehmender Alter wuchs seine Triebkraft und seine Lust, und er beanspruchte wie jedes Kleinkind auch in sexueller Hinsicht die Mutter, was natürlich nach Sigmund Freud innerhalb der Familie aus biologischen Gründen von der Gesellschaft strengstens geächtet wurde. Und hier liegt der Beginn des Ödipuskomplexes. Sie erinnern sich an die Sage: Der griechische Königssohn Ödipus erschlägt rein zufällig seinen Vater Laios und heiratet dann, ohne es zu ahnen, seine Mutter Iokaste und hat vier Kinder mit ihr, zwei Söhne und zwei Töchter. Als Ödipus erfährt, dass er seine Mutter geheiratet hat, ist er entsetzt, und noch entsetzter ist er, als er sieht, dass seine Kinder auch seine Geschwister sind, und aus Strafe blendet er sich. Er sticht sich die Augen aus. Das war ein tragisches Vergehen. Und der Volksmund behauptete bis vor kurzer Zeit immer noch, dass man blind werde, wenn man unkeusch sei. Oder dass man krank werde usw., wenn man in sexuellen Dingen etwas Unrechtes tue.

Jeder Junge erlebt also seine Mutter als Quelle der Kraft und der Liebe. Doch dann kommt wie in Pedros Fall der Vater spätabends nach Haus. Von der Arbeit, von Besorgungen, manchmal in alkoholisiertem Zustand aus der Schenke. Und er legt sich selbstverständlich ins Bett zu seiner Frau, wo Pedro natürlich stört; denn Platz ist in dem schmalen Bett nur für zwei. Pedro wird also aus dem Bett bugsiert. Und da das ja immer wieder passiert, erkennt der kleine Junge, wie stark der Vater ist. Nicht Pedro besitzt die Mutter, in Wirklichkeit ist es der Vater. Und von dieser gefühlsmäßigen Erfahrung an, von diesem Augenblick an sieht er den Vater mit anderen Augen. Der wirklich Mächtige ist der Vater, der ihm die Mutter nimmt. Der ihm die Wärme nimmt. Der Vater ist der Mächtige, der Herrscher, und Pedro ist der kleine, unbedeutende Junge. Und aus dieser Erfahrung heraus entwickelt sich Neid. Und aus Neid Ehrfurcht; denn der Vater ist soviel größer als er, kann Dinge im Handumdrehen erledigen, für die Pedro eine Ewigkeit bräuchte. Der Vater erscheint ihm übernächtig und wird zum Rivalen. Der Junge sieht, dass er die Mutter nicht halten kann und sinnt auf Rache. Er kann die Mutter nur dann für sich allein haben, wenn er stärker wird als der Vater oder der Vater aus dem Haus ist. Freud sagt, so ähnlich liefe jede Entwicklung in der Seele eines Jungen ab. Jeder Junge habe im tiefsten Innern schon mal mit dem Gedanken gespielt, den Vater aus dem Wege zu räumen.

Er will also gegen seinen Vater kämpfen. Doch das geht ja nicht; denn er stellt fest, dass er ohne den Vater nicht leben kann; denn der sorgt schließlich für den Schutz, fürs Haus und für die Nahrung. Deshalb kann er den Vater nicht aus dem Wege räumen, so gern er auch die Mutter besitzen möchte. Er versucht sich nun ins rechte Licht zu setzen und will zeigen, dass er dem Vater ebenbürtig ist. Er wird ehrgeizig, er vollbringt Taten und wagt sich an große Dinge heran. Doch der Vater ist nicht unterzukriegen. Deswegen greift er unbewusst zum letzten: Er will ihn töten. Doch das ist verboten, das ist unvorstellbar, das ist tabu. Trotzdem bleibt der Konflikt unauflösbar bestehen, und seine Angst, dem Vater zu unterliegen und die Mutter an jenen zu verlieren, nimmt zu. Dramatisch zu!

Was ist zu tun? Eine Frage, die ein kleiner Junge sich natürlich nie stellt, weil er ja gar nicht die Ursachen seiner Angst kennt. Erwachsene kennen ja häufig nicht einmal die Ursachen. Der Junge findet also keine Antwort, aber er macht das, was man so in der Gesellschaft, in der er lebt, macht: Er macht Mutproben. Der Philosoph Helmuth Plessener sagt, der moderne Mensch veranstalt deshalb mörderische Autorennen oder lasse sich beim bungee-Springen an einem Seil 50 Meter in die Tiefe fallen. Das kann Pedro nicht, weil es das damals noch nicht gab. Aber die Gesellschaft, die Mythologie und sogar die Religion oder Kulte boten ihm eine Lösung an: Einen Ausgleich für seine Angst. Einen Ersatz. Ein Symbol für die Stärke und Macht des Vaters. Es ist der Stier. Und deswegen kommt es dazu, dass gerade die Stierkämpfer die größte Angst haben, denn sie sehen in dem Stier, ohne es zu wissen, gleichzeitig auch immer ein Symbol hinter den Hörnern, eine Kraft dahinter, die mächtiger ist als er.

Mein Freund Rolf Bollmann erzählte mir, er sei in Rom in der Kirche San Clemente gewesen, die über dem alten Mithras-Tempel - die Mithras-Religion war eine Stierreligion -erbaut worden sei. In den unteren Hallen könne man über sich einen Rost sehen. Früher sei auf das Gitter dann ein Stier gezogen und abgestochen worden. Das Blut sei durch die Gittersprossen geflossen und auf die nackten Schultern von Jünglingen geträufelt, die unten in den Gewölben gesungen und dann den Stier verzehrt hätten, um sich seine Kraft einzuverleiben. Die Kraft des Vaters aus dem Fleisch des Stieres.
Und Hemingway erzählte, dass der Hoden des Stieres, der von einem Torero nicht getötet werden konnte, die höchsten Preise erzielte, wenn am nächsten Tag das Fleisch in der Fleischerei verkauft wurde. Gleichsam als Symbol der Unbesiegbarkeit und Stärke.

Zum Schluß kann man noch fragen, warum gibt es nur so wenige Stierkämpfer, wenn doch sehr viele Spanier eine ähnliche Jugend zwischen einem starken Vater und einem tyrannischen System erlebt hätten. Die Antwort fällt leicht: Sie haben noch mehr Angst als der Matador. Aber sie gehen in die Arena, rufen ¡olé! und identifizieren sich mit dem Stierkämpfer, der an ihrer Stelle in der Arena den Kampf gegen den Vater, gegen die Obrigkeit und gegen einen autoritären Staat ausficht.
Und deswegen steht im Mittelpunkt des spanischen Stierkampfes auch nichts anderes als das, was auch der Titel dieses Romans sagt: Die Angst des Stierkämpfers vor der Spitze des Horns

Sehr geehrte Damen und Herren, bevor ich Ihnen das kurze Anfangskapitel aus dem Roman vorlese, möchte ich drei Personen danken. Herrn Plaggenborg, meinem Verleger, und wir beide wissen, - ohne Worte -  wie schwer es ist und lange es dauert, bis ein Roman so vorliegt. Ich bedanke mich bei Frau Schüssler, die den heutigen Abend arrangiert hat und die Idee für diese Veranstaltung hatte. Am meisten aber bedanke ich mich bei Christa Kessens, meiner Frau. Sie hat das Titelbild gemalt. Und das ist schwer. Wie schwer es ist, sehen Sie daran, dass hier zehn Bilder hängen, die auch alle wohl das Titelbild hätten sein können. Und zu Hause haben wir weitere zehn und unendlich viele Skizzen. Den Roman habe ich ihr gewidmet, und die Widmung möchte ich Ihnen vorlesen:

Für Grande
Und nur für Grande
Und keine a n d e
Als meine Grande


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Dr. Andreas Krumbein, 25. August 2003