Stierkampf: Eine Erklärung 7

 
Leslie Charteris (geboren 1907), Schöpfer des Simon Templar, einer der berühmtesten Figuren des modernen Detektivromans, ist von Geburt Engländer und wurde 1957 Bürger der Vereinigten Staaten. Trotz seines großen Interesses für den Stierkampf trug er zur Literatur dieser Kunst nur durch seine englische Übersetzung und Herausgabe der Autobiographie von Juan Belmonte, Killer of Bulls, bei. Wie umfassend aber seine Kenntnisse auf diesem Gebiet sind, beweist die folgende, ebenso einfach wie überzeugend dargestellte Einführung in den Stierkampf.


[Mit eckigen Klammern sind Änderungen oder Hinzufügungen zum Text, teilweise Auslassungen, gekennzeichnet, mit denen ich Anpassungen der Darstellungen oder Aussagen vornehme, basierend auf meinen Erfahrungen der letzten 23 Jahre, während der ich Stierkämpfen in verschiedenen Ländern beigewohnt habe, mich mit aficionados aus Spanien und anderen Ländern in Gesprächen ausgetauscht und mich durch Lesen von Zeitschriften und Literatur stetig mit dem Spanischen Stierkampf befasst habe. Andreas Krumbein]


Über den Ursprung des Stierkampfes als Schauspiel mit fest umrissenen Regeln gibt es zahlreiche spekulative Theorien. In seiner heutigen Form besteht der Stierkampf darin, eine Reihe von Stieren - im allgemeinen sechs - auf zeremonielle Weise zu töten, entsprechend einer formell und traditionell festgelegten Manöverfolge, durch die Geschicklichkeit und Talent des Toreros sowie Kraft und Mut des Stieres demonstriert werden sollen, wobei man sich Kampfinstinkte des Stieres zunutze macht, um ihn in die Verfassung und Stellung zu bringen, in denen er nach den Regeln der Kunst perfekt getötet werden kann.
    Jeder, der mit dem Stier kämpft, ist ein torero. Der Mann, der den Stier tötet, ist ein matador. Das Wort Matador bedeutet "Töter". Gewöhnlich nehmen zwei bis vier Matadore an einer Corrida teil, und jeder von ihnen kämpft mit zwei oder drei Stieren, die er anschließend tötet. Jeder Matador ist Anführer einer cuadrilla, die meist aus zwei picadores, mit Lanzen bewaffneten Reitern, und [drei weiteren
subalternos (Untergebene) oder peónes (Gehilfen) besteht, die ihn während des Kampfes unterstützen und ihm Zuarbeit leisten. Meist sind zwei von ihnen banderilleros], womit jene Männer gemeint sind, die eine banderilla placieren, das ist ein siebzig Zentimeter langer Pfeil aus Holz, der mit verschiedenfarbigem Papier umwickelt und mit einer Spitze aus Stahlwiderhaken versehen ist. Zuweilen übernimmt das auch der Matador selbst, wenn er einigermaßen gut darin ist, manchmal sogar, wenn er es nicht ist; [...]. Stets befindet sich nur die Cuadrilla des Matadors in der Arena, mit dessen Stier gerade gekämpft wird; die anderen Cuadrillas warten auf der geschützten Seite der barrera, jener Barriere aus Holz, die um die Arena läuft und eine Art "Graben" zwischen Arena und Zuschauer-Tribüne bildet. In diesem Graben halten sich außerdem noch die Zimmerleute, die monosabios oder Arenenhelfer, die mozos de espadas, die sich um die Degen der Matadore kümmern, die verschiedenen Funktionäre, Veranstalter, Fotografen, Reporter auf, auch Polizeibeamte, stets wachsam, Zuschauer zurückhaltend, die in die Arena springen und versuchen wollen, selbst mit dem Stier zu kämpfen. Die Sicherheit dieses Grabens ist freilich nur bedingt; es gibt genügend Fälle, in denen Stiere über die Barrera sprangen und im Graben große Verwüstungen anrichteten. Die anderen Matadore halten sich [während bestimmter Phasen eines Kampfes ebenfalls hier auf, teilweise stehen sie auf bestimmten Positionen] am Rand der Arena, bereit, dem kämpfenden Matador bei Unfällen zu helfen und bei quites selbst in Aktion zu treten.
    Der Stier in der Arena ist mit dem Tier, das man in anderen Ländern zur Gewinnung von Rindfleisch züchtet, nur entfernt verwandt. Er ist praktisch ein wildes Tier, dessen Hauptinstinkt auf den Kampf gerichtet ist, und er gehört zu den stolzesten und mutigsten Tieren der Welt. Der Stier, den man heute beim Stierkampf sieht, stammt aus irgendeiner berühmten Zuchtlinie, die viele Jahre lang für ihre hervorragenden Kampfeigenschaften bekannt war. Viele Jahre lang hat man eine genau berechnete wissenschaftliche Auslese praktiziert, um sicherzugehen, daß das Produkt die besten Eigenschaften - Stärke, Mut, Wildheit - für die Zucht vereinigt, so wie andere Rinder jahrelang daraufhin gezüchtet werden, besonders viel Milch zu geben, oder wie Rennpferde auf Schnelligkeit und Ausdauer hin gezüchtet werden. Um den Regeln zu entsprechen, denen der Stierkampf unterliegt, wird ein solcher Stier ein Lebendgewicht von nicht weniger als [460] Kilogramm haben, also [etwa] eine halbe Tonne wiegen. Er kann auch noch schwerer sein. Das Auffälligste an ihm ist, neben seiner Größe und Kraft, der mächtige Muskelhöcker, der hinter den Hörnern beginnt und bis zur Mitte des Rückens läuft. Er ist der Kampfmuskel des Stieres; er ermöglicht es ihm, seinen Kopf hoch zu halten und höher zu heben, ganz gleich was sich darauf befindet, so daß der Stier mit seinen Hörnern Pferd und Reiter zugleich heben und hochwerfen kann. Nun schreiben die Regeln vor, daß der Matador den Stier mit einem Degen töten muß, indem er den Degen zwischen den Schulterblättern durch den Rücken des Stiers in dessen Brust stößt, wobei er vor dem Stier zu stehen und über dessen Hörnern zuzustoßen hat. Deshalb besteht eines der Kampfziele darin, den Nacken des Stieres, seinen großen Muskel zu ermüden, damit der Stier den Kopf senkt, denn solange er den Kopf nicht gesenkt hält, ist dieser Stoß unmöglich. Das andere Ziel besteht darin, den Stier auf einer Stelle zu halten, um so in die richtige Stoßposition zu kommen. Und diese Vorgänge müssen tapfer, artistisch, anmutig und nach einem festgelegten, auch zeitlich eingeteilten Ablauf ausgeführt werden, nur dann kann sich das Tempo des Kampfes steigern
(Diese Aussage ist nicht im Sinne von Schnelligkeit gemeint, sondern in dem Sinne, dass sich der Rhythmus der Aktionen und Reaktionen von Matador und Stier intensiviert; Anm. Krumbein), wie Musik durch das Crescendo sich zur höchsten Erregung der letzten Augenblicke steigern kann.
    Wenn der Stier aus dem toril oder Gehege herausgelassen wird, ist er ein wildes und unbändiges Tier. Er ist eingie Stunden lang im Dunkeln eingesperrt gewesen und wird nun in das gleißende Sonnenlicht der Arena getrieben. Er glaubt zunächst, man entließe ihn in die Freiheit der Weiden, wo er aufgewachsen ist, und muß nun entdecken, daß er lediglich in ein anderes Gefängnis kommt, wenn auch ein größeres. Der Stier wütet, kämpft wie von Sinnen. Man muß nur sehen, wie er in die Arena donnert - das allein genügt, um unsere menschenfreundlichen Instinkte fast zu lähmen. Kein Gedanke mehr an den bedauernswerten, hilflosen Stier - man betrachtet ihn eher wie einen Tiger, mit der gleichen Bewunderung und dem gleichen ehrfürchtigen, angstdurchsetzenden Respekt. Nicht anders als bei einem wütenden Tiger im Käfig muß es bei dem Stier dort unten in der Arena sein! Und dies ist das Tier, über das der Matador Herr werden muß, bis er vor ihm stehen kann.
    Der Matador ist nicht in der Arena, wenn der Stier hereinkommt; er steht hinter dem Schild eines der burladeros, wie die kleinen Brüstungen heißen, die, in der Größe eines Menschen, aus der Barrera herausgebaut sind. Hinter ihnen kann ein Mensch Schutz suchen, wenn er hart bedrängt wird. Sie kaschieren auch die Öffnungen der Barrera selbst, durch welche die Toreros die Arena betreten und verlassen. In der Arena befinden sich jetzt nur die [Subalternos] mit ihren capas, die wie gewöhnliche lange, schwere Capes aussehen und aus Rohseide sind, gelb auf der einen Seite und [von sattem Rosa] auf der anderen - Stiere reagieren auf Rot keineswegs empfindlicher als auf andere leuchtende Farben. Die
[Subalternos] "hetzen" den Stier, während der Matador zuschaut; das heißt, sie laufen vor dem Stier fort, ziehen ihre Capas hinter sich her, lassen den Stier die Capas angreifen und danach stoßen, lassen ihn jedoch nicht zu nahe kommen. Kommt er aber in gefährliche Nähe, suchen sie Deckung hinter den Burladeros. Man könnte meinen, sie hätten alle Angst vor dem Stier und keiner von ihnen wagte, ihm gegenüberzutreten und so nah an ihm vorbeizuschwenken, wie es der Matador dann tun wird. Man hätte damit unrecht: Sie spielen lediglich die ihnen zugeteilte Rolle im Kampf. Sie dürfen dem Stier gar nicht mit ihren Capas entgegentreten; sie benutzen diese lediglich, um sich zu schützen, auf die gleiche primitive Art wie etwa ein Mann seinen Mantel zum Schutz benutzen würde, wenn er von einem wütenden Bullen auf der Weide verfolgt würde, vorausgesetzt, er wäre erfahren und geistesgegenwärtig genug. Sie tun zwei nützliche Dinge: Sie nehmen dem Angriff des Stieres den ersten, wütenden, wilden, unkontrollierten Anlauf. Das ist deshalb wichtig, weil der Matador die streng festgelegten Figuren, die seine Kunst verlangt, nicht mit einem wild angreifenden Stier schafft. Überdies geben sie dem zuschauenden Matador die Möglichkeit, die charakteristischen Eigenschaften des Stieres im Kampf zu beobachten und dabei festzustellen, ob er in gerader Linie oder in geschwungener Kurve angreift, wie er den Kopf bewegt, ob er dazu neigt, mit dem rechten oder mit dem linken Horn zu stoßen. Auf das, was der Matador in wenigen Sekunden aus diesen ersten Beobachtungen lernt, muß er sein Leben setzen, wenn er kurz darauf so nahe am Stier arbeitet, daß die Hörner des Stieres seine Beine streifen und die Schulter des Stieres seinen Körper berührt - sofern er ein guter Matador ist, der die von ihm verlangten, den Spielregeln entsprechenden Schwenks ausführt. Sobald der Matador glaubt, daß er genug gesehen hat, kommt er hinter dem Burladero hervor, stellt sich dem Stier in den Weg und gibt ihm ein paar Schwenks mit der Capa.
    Es gibt viele Arten von Schwenks mit der Capa, und es wird wohl immer wieder neue geben, solange Stierkämpfer geboren werden, die sie erfinden wie Rodolfo Gaona und Chicuelo, die der gaonera und der chicuelina ihren Namen gaben. Aber alle diese Schwenks sind festgelegt und genormt wie die Schritte des Balletts, nur daß es sich hier um ein Ballett handelt, das für einen der Partner tödlich endet. Das Fundament der Arbeit mit der Capa ist die verónica, eine der größten Prüfungen für Geschicklichkeit und Mut eines Toreros. Belmonte zum Beispiel beherrschte die Kunst der
verónica vollkommen. Die verónica ist das Gegenstück des pase natural mit der muleta - auf die wir gleich kommen werden - und man kann wohl sagen, daß sie der natürlichste aller Schwenks ist. Der Torero nimmt die Capa in Schulterhöhe, dreht dem Stier die linke Schulter zu, steht in einer Linie mit dem Körper des Stieres und hält die Capa über die voraussichtliche Kampflinie des Stieres: Wenn der Stier ihn angreift, überläßt er ihm den Umhang, richtet aber seine Aufmerksamkeit ganz auf den Umhang, damit das Tier dem Umhang folgt und an ihm vorbeirennt, statt die Hörner in seinen Leib zu treiben; währenddessen dreht er sich, feststehend, ohne Bewegung der Füße und Beine, nur aus der Hüfte - und meißelt dergestalt eine Figur, wie man sie oft auf Abbildungen sieht. Wenn er das vollendet vorgeführt hat, wird man von den aficionados, die sozusagen die "Fans" des Stierkampfes sind, die rhythmischen Stakkato-Schreie des "¡Olé!" hören,  und schon wird sich der Matador wieder ein wenig gedreht haben, bereit, wenn der Stier wendet und den gleichen Weg zurückläuft und wieder angreift, ihm von neuem eine verónica zu geben. Er wird ihm eine ganze Reihe von Schwenks bieten, die Anzahl hängt davon ab, wie mutig und geschickt er ist, wie tapfer der Stier ist und wie lange er ihn dazu bewegen kann, immer wieder anzugreifen, statt fortzugaloppieren und sich ein anderes Ziel zu suchen. Am Ende wird er das Manöver mit einer recorte abschließen, einem Schwenk, der mit einem schnellen Schlag des Tuches endet, genau wie die media verónica, die wie eine verónica beginnt, nur daß hier der Torero die Hände in die Hüften stemmt, während er sich in die entgegengesetzte Richtung dreht und dreht, so daß die Capa ihn wie eine ausgebreitete Krinoline umwickelt. Der plötzlich irritierende Farbstreifen soll den Stier an der Stelle festhalten, wo er gerade steht, ihn bewegungslos und verstört verharren lassen, so daß der Matador ihm jetzt den Rücken zukehren und mit der Capa über dem Arm langsam weggehen kann, begleitet vom Beifall rundum, wenn er gute Arbiet geleistet hat, vom Stier nur beobachtet, ohne angegriffen zu werden. Wenn er sich allerdings geirrt und den Stier nicht festgebannt hat, kann es passieren, daß er ein Horn ins Hinterteil bekommt, und das könnte sein Ende bedeuten. Hat seine Stunde aber noch nicht geschlagen, werden die Trompeten das zweite Viertel des Kampfes einleiten, die suerte de varas, [die Lanzenphase], die Arbeit der Picadores.
    Während die Picadores auf ihren [...] Gäulen in die Arena reiten, sollte man ein wenig über den Stier nachdenken, denn alle Vorgänge eines Stierkampfes sind - intelligent abgezielt - gegen ihn gerichtet. Doch auch der Stier ist intelligent. Wird das Tempo des Kampfes nicht perfekt gesteuert und dauert der Kampf auch nur zehn Minuten länger, als er dauern sollte, kann er derart überlegen werden, daß es unmöglich ist, ihn nach den Regeln zu manövrieren und zu töten. Die Vorteile des Stieres sind seine Kraft, sein Stärke, seine Geschwindigkeit und seine Tapferkeit, der furchtlose kämpferische Instinkt, mit dem er jedes andere Geschöpf angreift, das ihm unter die Augen kommt. Seine natürliche Neigung, in einer geraden, fortlaufenden Linie anzugreifen, sobald er sich auf ein Objekt fixiert hat, ist ein Vorteil für den Stierkampf. Ein Handikap für ihn selbst ist, daß er sich durch jede Bewegung in seinem Gesichtsfeld ablenken läßt. Und auf diesem Handikap beruhen Kunst und Arbeit des Matadors, der die Aufmerksamkeit des Stieres von sich auf die Capa oder Muleta lenkt. Der Stier, den wir beim Kampf sehen, kennt den Menschen noch nicht und ist noch nie von einer Capa oder Muleta irregeführt worden; wenn er jemals vorher gekämpft hätte, wäre ein Kampf mit ihm nicht mehr möglich, weil er zu viel gelernt hätte. Dies ist seine erste Erfahrung mit den Tücken eines neuen Feindes, und während des ganzen Kampfes sucht er nach Wegen, mit ihnen fertigzuwerden. Sein ganzes Leben, bei all seinen Kämpfen mit anderen Stieren auf der Weide, hatte er es mit normalen Gegnern zu tun, die sich normal verhielten. Er war gewöhnt, ein Ziel anzugreifen und es dort zu finden, wo seine Hörner eindrangen, und er hätte sich nie träumen lassen, daß ein Ziel sich in nachgiebiger Seide auflösen könne, wenn der Stoß traf. Nun hat er den Angriffsstoß schon mehrmals ausgeführt und dabei keinen Widerstand getroffen, und die letzte Recorte des Matadors hat ihn endgültig aus dem Geleise gebracht. Der Stier ist verwirrt und denkt: "Verschwende ich meine Zeit, indem ich Schatten angreife? Hält man mich zum Narren?" Er denkt auch: "Was kann ich tun, damit meine Angriffe wirkungsvoller sind?" Und während man jetzt vielleicht schon im Begriffe ist, den Stier mitleidig zu betrachten, sollte man doch eher an den armen Matador denken, denn der Stier wird von Mal zu Mal klüger und gefährlicher, er wird gleich noch gefährlicher angreifen, noch überlegter, selbst wenn man denkt, er hätte den Mut bereits aufgegeben. Er gleicht einem Tennisspieler, der beim ersten Versuch, den Gegener vom Feld zu treiben, wild geschlagen und geschmettert hat, jeden Schlag aber sauber erwidert sah, und sich jetzt beruhigen muß, um methodischer zu spielen und die Schwächen des Gegners herauszufinden. Der Stier ist ebensoweit wie er davon entfernt, eine Niederlage zuzugeben; und während er ein wenig müde wird, sammelt er seine Kräfte, um sie desto besser zu nutzen und jedem Angriff und Stoß die beste Wirkung zu geben.
    Die Picadores reiten also in die Arena, und die Aufmerksamkeit des Stieres richtet sich auf den Mann auf dem Pferderücken, der schon eher den Geschöpfen ähnelt, an die er gewöhnt ist; und der Stier ist ermutigt und greift wieder an, den Mann und das Pferd. Diese Pferde sich durch eine Art matratzenähnliche Rüstung geschirmt, die über eine Flanke und unter den Bauch geschnürt wird und seit 1928 gesetzlich vorgeschrieben ist. Sie soll das Pferd schützen. Manchmal tut sie es auch, aber nicht immer. Das rechte Bein des Picadors ist ebenfalls durch eine Stahlrüstung geschützt, sie soll ihn schützen, hilft aber nicht viel, wenn er abgeworfen wird. Wenn der Stier angreift, wird der Picador seine Lanzenspitze in den Muskelhöcker des Stieres stoßen, sofern er geschickt und schnell genug ist; theoretisch soll er den Stier davon abhalten, das Pferd zu erreichen. Das Schlimme ist, daß es heutzutage nicht mehr viele Picadores gibt wie José Trigo, der einen sechsjährigen Stier mit dem stumpfen Ende der Lanze abhalten konnte, oder wie Corchado, der niemals mit Beinrüstung oder Pferdeschutz in die Arena kam und während der ganzen Corrida dasselbe Tier benutzte und niemals Striemen im Fell des Pferdes oder Löcher in seinen Seidenstrümpfen davontrug. Außerdem gibt es viele Matadore, die glauben, ein Stier müsse enganchar, müsse seine Hörner in lebendes, widerstrebendes Fleisch treiben, um gut für den Kampf zu sein, und wenn der Stier das Pferd erwischt und hochhebt, trüge das außerdem dazu bei, seinen Nacken zu ermüden, so daß er den Kopf niedriger trägt, was wir bereits als eines der Kampfziele aufgeführt haben. Es gibt auch den Aberglauben, die Wunde eines Horns, das schon in einen Pferdekörper gedrungen ist, werde niemals septisch und verheile schneller als die Verletzung eines sauberen Horns. Außerdem ist es nicht leicht, eine Lanze genau in die richtige Stelle im Muskelhöcker des angreifenden Stieres zu stoßen, und wenn der Stier nicht ein paar Pferde umwirft, nimmt das Publikum vielleicht an, er wäre nicht sehr tapfer; also wird der Stier wahrscheinlich das Pferd erwischen, ob er dabei nun einen pic einheimst oder nicht. Ein Picador, der die Anweisungen eines feigen und skrupellosen Matadors befolgt, kann den Stier für den Rest des Kampfes verderben: Er kann den Pic beispielsweise zu weit hinten einstechen und dabei die Wirbelsäule des Stieres verletzen, oder er kann den Pic herumdrehen, wenn er ihn hineingestoßen hat und den Widerstand des Stieres spürt, so daß er die Wunde vergrößert und der Stier durch den Blutverlust geschwächt wird. Doch selbst wenn er seine Arbeit gut macht und den Stier abwehrt, kann der Stier sich zu schnell freimachen und wieder angreifen und das Pferd an der ungeschützten Seite Flanke erwischen; oder er placiert den Pic richtig und stellt fest, daß der Stier zu stark für ihn ist. Der Falz am Lanzenende wird ihm immer noch ermöglichen, die Spitze gut fünfzehn Zentimeter hineinzutreiben; ich habe jedoch schon Stiere erlebt, die gegen den Pic in ihrem Rücken ankämpften, mit den Hufen stampften und den Körper nach vorn warfen, immer noch versuchten, Mann und Pferd trotz der Strafe zu erwischen. Das ist die Tapferkeit eines kämpfenden Stieres. Der Stier kann das Pferd also in jedem Fall erwischen, wenn es auch nur die Rammkraft des von der Matratze abgefangenen Stoßes ist, die das Pferd umwirft; und sobald das Pferd am Boden liegt, kann der Stier seine Angriffe fortsetzen, bevor man es fortzieht, und seine Hörner unter die Matratze bringen, um die Eingeweide des Pferdes herauszufetzen. Mit dem Picador könnte er genau dasselbe machen, doch mit dem hätte wohl ein Menschenfreund nicht besonders viel Mitleid. Jedenfalls ist es nun Aufgabe des Matadors, den quite auszuführen.
    Beim Quite muß der Matador zunächst mit seiner Capa die Aufmerksamkeit des Stieres ablenken, ihn dann mit den gleichen Schwenks manövrieren, die schon bei der vorangegangenen Arbeit mit der Capa benutzt wurden, und mit einer Recorte aufhören, die dazu dient, den Stier in der geeigneten Position für das nächste Pferd festzuhalten. Bei diesen Quites sollte der Matador am meisten mit der Capa glänzen, denn jetzt lässt sich der Stier am besten manövrieren. Er hat aus seinen Angriffen und dem Gefühl, etwas erreicht zu haben, neuen Mut geschöpft, und eigentlich sollte er jetzt mit größerem Elan und stärkerer Wildheit angreifen denn je, aber er wird trotzdem nicht so wild und gefährlich sein, weil er die erste Lektion des trügerischen Köders nicht vergessen hat und weil er schon etwas müde ist und sich jede Bewegung genau überlegen muß.
    Bei den Quites sollte man die Steigerung jenes Zustandes im Kampf spüren, den die Spanier emoción nennen. Für emoción läßt sich im Deutschen kein besseres Wort als Erregung finden. Man hat den Stier in seinem ersten wilden Ungestüm gesehen, man hat gesehen, wie er seine Stärke, Wildheit und Tapferkeit dadurch bewies, daß er gegen den Pic anging und den Picador und dessen Pferd wie einen Sack Kartoffeln umwarf; und nun steht dort ein einziger Mann, der Matador, mit nichts anderem bewaffnet als mit einer Capa und seiner Geschicklichkeit und seinen Erfahrungen im Stierkampf, steht dem Stier allein gegenüber, manövriert ihn, bringt ihn dazu, statt ihn selbst die Capa anzugreifen, lenkt den Stier, steuert seinen Ansturm, hält ihn nahe bei sich, beherrscht ihn, bannt ihn mit dem Tuch wie mit einem Magneten, wirbelt jene Masse wilden Fleisches, unter der die Erde bebt, um seinen Körper herum, als wäre sie weich und plastisch, und während er all das macht, wenn er es gut macht, so weich und leicht und anmutig wie ein Tänzer, zeichnen sich die schwebenden und leichten Figuren seines schlanken Körpers gegen die dunkle, drohende Masse des Stieres ab, er bewegt sich scheinbar ohne Anstrengung, scheinbar ohne Risiko - bis man sich plötzlich daran erinnert, was der Stier mit den Pferden machte, bis einem wieder klar wird, was ein Stier anrichten kann und was er umso müheloser mit dem Matador anrichten würde, wenn diesem auch nur ein einziger Fehler unterliefe.
    Eine - nicht immer beachtete - Regel besagt, daß jeder Stier mindestens vier Pics (Heutzutage gilt: minimal zwei Pics in Arenen erster Kategorie, minimal ein Pic in Arenen niedrigerer Kategorie; Anm. Krumbein) einstecken muß. Der erste Quite wird von dem Matador ausgeführt, dem der Stier gehört, und die folgenden von den anderen bei der Corrida mitwirkenden Matadoren, in der Reihenfolge ihres [Dienstalters als Matador], und ihre Rivalität untereinander sollte sich darin äußern, daß jeder versucht, einen besseren und mutigeren Quite zu machen als die anderen. Dann, beim nächtsen Trompetensignal, werden die [...] Pferde aus der Arean geritten, und der Kampf geht in sein drittes Viertel, bei dem die Banderillas placiert werden.
    Wenn der Matador die Banderillas nicht selbst placiert, ruht er sich in diesem Viertel zur Vorbereitung auf seine faena mit der muleta aus, während [die] anderen Matadore in der Arena [bleiben], um bereit zu sein, notfalls einem der Banderilleros zu helfen. [...]  Die Banderillas werden von einem Mann eingestochen, der in jeder Hand eine hält, am stumpfen Ende, mit der Spitze nach unten, und die Arme etwas über dem Kopf ausbreitet; er ruft den Stier herbei, und wenn der Stier angreift, läuft er in einem bestimmten Winkel auf ihn zu, bleibt an der richtigen Stelle stehen, stellt die Füße einen Augenblick zusammen, lehnt sich über die Hörner nach vorn und treibt die Banderillas in den Höcker, wo sie wegen der Widerhaken stecken bleiben. Dann bringt er sich schleunigst in Sicherheit, während der Stier stockt und prüft und seinen Kopf hochwirft. Abgelenkt durch den plötzlichen Schmerz, gibt er dem Banderillero die Möglichkeit zu entkommen. Die abwechselnd arbeitenden Banderilleros werden [im allgemeinen drei Paare] Banderillas einstechen. Wenn diese an dem Stier perfekt placiert sind, werden sich auf jeder Seite der Wirbelsäule drei befinden, neben den Wunden der Pics, genau im Kreis um die Stelle, nach der der Matador später beim Töten mit seinem Degen zielen muß. Ein geschickter Banderillero kann sie jedoch auch absichtlich auf einer Seite einstechen, um die Neigung eines Stieres zu korrigieren, nur mit einem Horn zu stoßen, was die Matadore beim Manöver mit der Capa nicht abstellen konnten. Es gibt noch einige andere Technicken, die Banderillas zu placieren, aber sie werden fast immer vom Matador ausgeführt, wenn er in diesem Stadium des Kampfes brillieren will; und auch hier steigert sich die Erregung, wenn der Mann in jenem Augenblick mit geschlossenen Füßen posiert, in dem er die Pfeile einsticht, dem atemlosen Augenblick, in dem die Pfeile hineinsausen und die Hörner der Stieres unter seinem Bauch vorbeischnellen, während sein Körper sich zur Seite neigt. Aber man erlebt das sehr selten, und es reicht nie an die Erregung im Augenblick des Todes heran, wenn der Matador mit dem Stier eins ist, nicht von ihm getrennt, wie der Banderillero es sein muß. Natürlich sind die Banderilleros wie alles beim Stierkampf von Nutzen: Sie korrigieren nicht nur eventuelle Neigungen des Stieres, mit bestimmten Hörnern zu stoßen, sondern fahren auch fort, den Stier mürbe zu machen, vor allem seinen Nacken zu ermüden, wenn er seinen Kopf schüttelt, um zu versuchen, die Pfeile herauszuschütteln. Sie bringen den Stier dahin, sich auf ein kleineres Ziel zu konzentrieren. Der Banderillero ist nicht von einer Capa abgeschirmt und bereitet [den Stier] auf die faena, die Arbeit mit der muleta, vor, die jetzt kommt.
    Die muleta ist ein ovales rotes Tuch, das an einem knapp sechzig Zentimeter langen Stab der Länge nach festgenäht ist. Das Tuch wird auf beiden Seiten über den Stab geschlagen, so daß es wie ein Vorhang herabhängt. Der Matador kann die Muleta beliebig in der rechten oder linken Hand halten, aber den Degen muß er immer in der rechten Hand führen; wenn er also die Muleta auch in der rechten Hand hält, hilft der Degen, das Tuch auszubreiten und größer wirken zu lassen, während er, hält er die Muleta in der linken Hand, einen viel kleineren Köder hat, um die Aufmerksamkeit des Stieres von seinem Körper abzulenken. Aus diesem Grund wird die Arbeit mit der Muleta in der linken Hand höher eingeschätzt.
    Mit der Muleta geht der Matador allein in die Arena. Er steht unter der Loge des Präsidenten, schwenkt den Hut[, um vom Präsidenten die Erlaubnis zum Beginn der faena de muleta, der Arbeit mit der Muleta, zu erbitten, und widmet den Tod des Stieres entweder dem Präsidenten oder jemandem] unter den Zuschauern; vielleicht geht er auch in die Mitte der Arena und schwenkt seinen Hut in Richtung der Tribünen, womit er den Stier dem ganzen Publikum widmet. Dann wirft er den Hut fort [auf den Sand oder demjenigen Zuschauer] zu, dem die Widmung gilt, damit er während der Faena für ihn aufbewahrt wird. Dann geht er auf den Stier zu.
    Nun erlebt man den Höhepunkt des Stierkampfes, das Schlußcrescendo, eine Erregung, die sich bis zum Augenblick des Tötens steigert. Der Ruf des Matadors steht und fällt mit der Arbeit mit der Muleta. Mit der Muleta erreichte Belmonte seine absoluten Höhepunkte. Die Schwenks sind wieder so unterschiedlich wie mit der Capa, und einige von ihnen werden wir noch schildern. Sie beruhen auf dem pase natural, dem natürlichen Schwenk, der der einfachste und gefährlichste und für das Auge schönste ist. Beim pase natural steht der Matador mit der Muleta in der Hand, hat den Arm etwas seitlich ausgestreckt, so daß der Stoff kaum sein Beine bedeckt; er ruft den Stier, und beim Angriff steuert er ihn dicht an sich vorbei, so daß die Hörner seine Schenkel streifen, wenn er es wagt, ihn so dicht an sich heranzulassen, und die Schultern des Stiers gleiten an seiner Hüfte entlang, während er die gleiche anmutige Figur macht wie mit der Capa, Füße und Beine bewegungslos und graziös hält, sich nur aus der Hüfte heraus dreht, den Stier lenkt, ihn beherrscht, sich all seine Instinkte, die er kennt, zunutze macht, um ihn wie einen fließenden Schleier um sich zu wirbeln. Und dann muß er bereit sein, und der Stier muß sich gewendet haben, um wieder anzugreifen. Der Matador wird ihm einen neuen pase natural oder einen pase de pecho geben, ihn unaufhörlich manövrieren, ihn so bewegen, wie er ihn bewegen will, ihn kommandieren, ihn durch seine Kunst zwingen, wie ein bewußt mitspielender Partner an diesem seltsamen und unheilvoll schönen Totentanz mitzuwirken. Und dann wird er seine Position ändern und eine andere Reihe fortlaufender Schwenks ausführen, deren Form und Rhythmus so vollendet und folgerichtig sein sollten wie die Melodie einer Musik; und dann hat er den Stier vielleicht gebannt und verwirrt auf der Stelle festgehalten, und wenn er tapfer ist und seiner Urteilskraft traut, wird er nun einen adorno einlegen. Er wird langsam die Hand ausstrecken und das Horn des Stieres oder dessen Ohr ergreifen, oder er wird mit dem Rücken zum Stier niederknien und zur Tribüne schauen; und jetzt werden sie ihm zujubeln und applaudieren, wenn er gut gewesen ist, und er wird sich wieder erheben und seine Faena fortsetzen. All das ist das Schlußstadium der Arbeit, den Stier müde zu machen und seinen Kopf zu senken, ihn zu verlangsamen, damit der Matador den Todesstoß im richtigen Augenblick ausführen kann. Und er versucht, tapfer und gewissenhaft zu töten, und wenn der Stier nicht vorher schon verdorben wurde durch einen Pic im Rückgrat oder grausame Arbeit mit der Capa, die seinen Rücken durch zu schnelles Wenden überanstrengte, wird es in hohem Maße von der Arbeit mit der Muleta abhängen, ob der Matador den Stier schwanken oder zusammensinken sieht, nachdem er den Degen hineingestoßen hat, oder ob das Horn ihn im Schenkel erwischen wird, wenn er zustößt, und ihn in den Himmel und wieder herab in den Tod schicken wird. Aber daran sollte man jetzt noch nicht denken, weil die Arbeit so und so vollbracht werden muß. Sie muß schön anzusehen sein, und wenn es keine Augenweide ist, dann ist es eine schlechte Faena, selbst wenn der Matador den Stier am Ende doch noch richtig töten sollte. Er muß seine Aufgabe jetzt mit so viel Anmut und Schönheit erfüllen, daß man sich des möglichen Ausgangs gar nicht mehr bewußt ist. Das darf nicht monoton, sondern muß mit vielen Variationen geschehen; es muß durch alle Stadien der Erregung führen, in die der Genius eines großen Matadors uns versetzen kann. Es muß Licht und Schatten geben, es muß manchmal feierlich und nüchtern und manchmal schwebend und leicht, manchmal tragisch und manchmal fröhlich sein. Man muß fühlen, daß es ihm auch dann ernst ist, wenn er fröhlich ist, weil dies alles mit dem Tod endet, und er darf nicht das Gefühl wecken, daß er leichtfertig mit dem Tod umgeht, selbst wenn er ihn leicht macht, denn der Tod geht auch nicht leichtfertig mit ihm um. Man muß fühlen, daß er Stolz und Verantwortungsgefühl besitzt, denn wenn der Tod des Stieres nicht gerechtfertigt ist durch die Schönheit des Tötens, dann ist der Stierkampf so grausam und sinnlos, wie die Apostel der Menschlichkeit uns gern glauben machen würden.
    Wenn man aber die vollkommene Faena gesehen hat, und wenn alle Erregung des Kampfes sich immer mehr gesteigert und so lange gehalten hat, wie es ein vollkommener Kampf erfordert, dann ist die Zeit für das Töten gekommen.
    Der Stier steht regungslos, die Vorderbeine beieinander und den Kopf gesenkt. Der Matador steht ihm gegenüber, in der richtigen Entfernung, die Füße nebeneinander und das Schwergewicht seines Körpers auf den Fußballen ruhend, die Muleta in seiner linken Hand hängt über seine Füße und den unteren Teil der Beine herab. Er hat die Augen des Stieres auf die Muleta gebannt, und er "profiliert", wie man es nennt: Der Degen wird in der rechten Hand gehalten, dem Stier entgegengestreckt, und er zielt am Degen entlang auf die Stelle, die der Degen treffen muß. Nun kann er entweder recibiendo, empfanged, töten - das heißt, er läßt den Stier angreifen und empfängt den Stier auf seinem Degen; oder mit einem volapié - das heißt, er taucht den Degen ein, während der Stier bewegungslos steht; oder al encuentro, mit einer Kombination von beidem, bei der Stier und Mann aufeinander zugehen. Wie immer er es macht: Er muß die linke Hand mit der Muleta in jedem Fall im entscheidenden Augenblick am Körper vorbeiführen, um den Kopf des Stieres rechts an sich vorbeizulenken, während er nach links schwenkt, um dem rechten Horn des Stieres zu entgehen. Wenn es eine vollkommene estocada gewesen ist, steht der Stier mit dem Degen im Rücken da und nur das Heft schaut noch heraus, seine vier Beine sind in den Boden gespreizt, als wollte er sich feststützen, und einen Augenblick später wird er zusammenbrechen und tot sein. Wenn es eine schlechte estocada war, ist der Stier vielleicht nicht tödlich getroffen, und vielleicht schüttelt er den Degen ab, wenn er überhaupt feststeckte. Es kann sein, daß der Matador ihn aus Angst auch gar nicht hineingestoßen hat: das heißt, der Degen ist herausgekommen, noch bevor er richtig drinnen war, [oder] der Stoß war nur ein pinchazo, ein Nadelstich. In solchen Fällen sieht man die Peónes mit ihren Capas wedeln, um den Stier immer wieder im Kreis zu drehen, damit er benommen wird und innerlich verblutet und zusammenbricht, so daß man ihn leicht erledigen kann. Das Gesetz fordert vom Matador, [den Degen über die Hörner hinweg einzustoßen, ...], und hat er nicht den Mut zu einem [weiteren] Anlauf, so wird er versuchen, den Stier mit einem descabello loszuwerden. Es ist nur menschlich, wenn er den Stier dazu bringen will, den Kopf so zu senken, daß er auf der hinteren Schädeldecke die richtige Stelle für den Degen findet und mit einem schnellen Stoß nach unten die Nackenwirbel durchtrennt; doch wenn der Stier noch voller Leben ist, wird er den Kopf wieder heben, sobald er die Spitze fühlt, und der Matador wird viele stümperhafte Versuche machen müssen, bevor er das Tier los wird. Und das Volk auf den Tribünen wird schreien und pfeifen. So wird alles zu einem sehr schmutzigen und widerlichen Geschäft, das den ganzen Eindruck der Faena zerstört, falls ein derartiger Matador überhaupt einen guten Eindruck gemacht haben könnte; und man täte in einem solchen Fall gut daran, die Flaschen zu werfen, die man in weiser Voraussicht mitgebracht hat, falls man glaubt, dies zu können, ohne dabei von einem Polizisten erwischt zu werden. Wenn man jedoch nach einer vollkommenen Faena eine vollkommene estocada sieht, ist das der erlösende Schlußakkord, der erhabene Augenblick, in dem man den Atem anhält. Man wird sehen, wie Mann und Stier, die sich eben noch wie Tanzpartner umkreisten, plötzlich verflochten sind, der Mann mit dem Stier vereinigt, durch den Degen an den Stier geschmiedet, wobei der Stahl gänzlich verschwunden ist und nur die Hand des Mannes auf dem höchsten Punkt am Rücken des Stieres das Heft des Degens umklammert, der Matador mit den Hörnern des Stieres unter sich und den Körper über den Stier gebeugt; das ist etwas, was man niemals vergißt.
     Das also ist Stierkampf, und wenn er Ihnen jetzt immer noch nichts bedeutet, sollten Sie hinfahren und sich selbst einen ansehen - die Beschreibung des Stierkampfes kann schließlich kaum mehr vermitteln als die verbale Beschreibung einer Symphonie. Sie werden sich mindestens ein Dutzend Stierkämpfe ansehen müssen, bevor Sie - auch mit Hilfe aller Bücher der Welt - anfangen können, die Feinheiten zu erkennen und zu begreifen, denn Ihr Auge wird noch nicht geübt und schnell genug sein, sie zu erfassen; es ist genauso, als hörten Sie zum erstenmal Musik - Sie müßten viele Konzerte besuchen, bevor Sie viel mehr hören könnten als die Töne. Und dann müssen Sie vielleicht zwanzig schlechte oder mittelmäßige Stierkämpfe sehen, bevor sie einen richtigen und perfekten sehen dürfen: Weil Matadore ebenso launisch sind wie andere Künstler, und sie alle haben schlechte Tage, und auch, weil fast ebensoviel vom Stier abhängt wie vom Matador, und die Stiere nicht immer gut sind. Schließlich gibt es viele skrupellose und allzu geschäftstüchtige Matadore, und ein Mann, der für jede Corrida fünftausend Dollar erhält, neigt dazu, ganz simpel zu überlegen, was ihn eine Verletzung kosten würde, die ihn um ein halbes Dutzend Kämpfe brächte, wobei es unmöglich ist für einen Matador, gute Arbeit zu leisten, wenn er sich dem Stier nicht so nähert, daß er verletzt werden könnte. Wenn Sie aber jemals eine erhabene Faena sehen, werden Sie wissen, daß Sie sie gesehen haben, und wenn sie Ihnen dann immer noch nichts bedeutet, sollten Sie es besser aufgeben und wieder anfangen, Füchse zu jagen oder Tauben zu schießen und all das zu tun, was zwar sehr menschenfreundlich, aber ganz und gar unelegant ist.


Die Fiesta 8


[Mit eckigen Klammern sind Änderungen oder Hinzufügungen zum Text, teilweise Auslassungen, gekennzeichnet, mit denen ich Anpassungen der Darstellungen oder Aussagen vornehme, basierend auf meinen Erfahrungen der letzten 23 Jahre, während der ich Stierkämpfen in verschiedenen Ländern beigewohnt habe, mich mit aficionados aus Spanien und anderen Ländern in Gesprächen ausgetauscht und mich durch Lesen von Zeitschriften und Literatur stetig mit dem Spanischen Stierkampf befasst habe. Andreas Krumbein]


Die Sonntage, die Feiertage, die Festtage der jeweiligen Stadtheiligen sind in Spanien nicht nur Tage der Kirche, sondern auch der Corrida, "mit Erlaubnis der Obrigkeit, unter ihrem Vorsitz, und wenn es das Wetter nicht verbietet", wie die traditionelle Formel lautet. Am späten Nachmittag füllen sich die hohen, kreisrunden Arenen, monumentale, meist neomaurische Bauten. "Die ganze Stadt ist auf den Beinen" - so oder ähnlich liest man es in älteren Beschreibungen. Heute trifft dies auf den Alltag selbst zu, und die Corrida geht in ihm nahezu unter. Freilich ist sie vielerorts noch das Fest schlechthin, wo man ißt und trinkt und gesehen wird: die "fiesta nacional" oder einfach "nuestra fiesta", unsere Feier. Aber die neuen Heroen der Fußballstadien machen den alten der "plaza de toros"1) die Massen streitig. [... Im Gegensatz zu den Küstenstädten dominieren im Landesinneren] noch eher die auf Tradition haltenden Familien, insbesondere aber die älteren Männer, allein oder in Gruppen. Die Westwand der Tribüne wirft einen Schatten bis in die Hälfte der Arena. Wer es sich leisten kann, bezahlt für einen Platz im Schatten. Doch die meisten können nur einen billigeren Platz auf der anderen Seite erstehen, wo es heiß ist und die Sonne blendet. Hier sitzen sie dicht gedrängt bis zur Galerie hinauf, die Aficionados, die leidenschaftlichen Kenner der Stiere, der Toreros und der Regeln des Zusammenspiels beider2).
Pünktlich zur festgesetzten Stunde betritt der "Präsident" der Corrida die Ehrenloge, das ist irgendein lokaler Würdenträger, ein Bürgermeister, Präfekt, General oder Regierungsvertreter mit Gefolge. Ein Trompetensignal ertönt. Auf ein Zeichen des Präsidenten reiten zwei "alguacilillos"3) in Uniformen des 16. Jahrhunderts ein. Sie grüßen den Präsidenten, Beifall, eine Blaskapelle spielt einen Pasodoble, die Alguacilillos galoppieren durch die Arena. Sie geleiten nun die Prozession aller Toreros und Helfer herein. Vorweg schreiten die drei (selten vier) "matadores", von denen jeder zwei Stiere töten wird, dann jeweils hinter ihnen ihre "cuadrillas", das sind jeweils drei "banderilleros" und ein "picador" zu Pferd.
4) Mit ihren schweren, gold- und silberfarben bestickten Uniformen, grellfarbigen Jacken, hautengen Kniehosen, rosa Strümpfen und flachen schwarzen Schuhen bilden sie eine sonnenglänzende, vom Grau des Alltags abgehobene Formation. Zum Abschluß dieser Prozession ziehen die Arenadiener mit dem Pferde- oder Maultiergespann ein, das den toten Stier vom Platz schleifen wird - das Ende ist schon gegenwärtig. Manche Toreros bekreuzigen sich. Die Prozession macht vor der Präsidentloge halt. Die Toreros grüßen den Präsidenten: ehrfurchtsvoll, nachlässig oder ironisch übertrieben. Sie setzen ihre schwarzen, querkrempigen Hüte wieder auf, drapieren ihre prunkvollen Parade-Capas5) über der Begrenzung der ersten Sitzreihe und entfalten die Capas für den Toreo6) zu ersten Probeschwüngen. Das alles wird rasch, fast beiläufig erledigt. Und doch scheint demonstriert zu werden, daß alles dem Präsidenten gilt und nichts ohne seinen Befehl oder seine Zustimmung geschieht. Wieder ergeht ein Befehl, jetzt zum Öffnen des Tores zu den Ställen, ein Trompetensignal, und schon fegt er über den Sand der Arena - ein Stier.
Einen Augenblick lang scheint er verwirrt, dann gerät seine Aufmerksamkeit, quer über den Platz, in den Bann der Toreros, und dieser Bann wird ihn nicht mehr loslassen bis zum Ende. Mehr als erste Lockungen wagen die Männer mit den weiten, rosafarbenen, gelb gefütterten Capas noch nicht. Vor dem heranbrausenden Stier verstecken sie sich hinter den vorgeschobenen Schutzwänden, gegen die manchmal, in blinder Wut, der schwarze Schädel kracht. Nun zeigt der Matador seine Kunst. Der Stier, eine halbe Tonne schwer, angriffslustig, stürzt sich in bösem, rasendem Galopp auf den Mann mit der Capa. Der löst sich durch eine Drehung seines Körpers und einen Schwenk der Capa, jedoch ohne einen Schritt zur Seite zu machen, vom flatternden Ziel, und die tödlichen Hörner, die in die Capa stoßen, treffen ins Leere. Die ersten "suertes"
7) mit der Capa, bei denen der Stier noch frisch ist und auf große Entfernungen mit hoher Geschwindigkeit jedes Ziel angreift, erlauben es dem Matador, die Eigenarten des Stieres einzuschätzen. In dieser Phase, heißt es, ist der Stier noch am wenigsten gefährlich, weil er ziemlich berechenbar ist.
Ostersonntag 1982 in der Plaza de toro "Las Ventas", Madrid
: Der Matador Juan Alcoba mit dem Beinamen "El Macareno" versucht seine ersten Suertes. Er führt den Stier dicht am Körper vorbei. Der Stier dreht sich, um erneut anzugreifen. Jetzt hat El Macareno die Capa unsanft weggerissen, so daß der Stier auf der Stelle stoppt und scharf wendet. Der Mann versucht, Abstand zu gewinnen, und läuft ein paar Schritte rückwärts. Dabei tritt er auf seine Capa und stolpert. Noch bevor er ganz auf dem Boden liegt, ist der Stier über ihm, schleudert ihn mit den Hörnern nach oben, geht auf den heruntergefallenen Macareno erneut los. Vorbei ist die unbeschwerte Sonntagnachmittag-Stimmung, falls sie je da war in den Köpfen derer, die die Corrida kennen. Viele springen vor Aufregung von den Sitzen. Endlich - und doch hat das alles nur Sekunden gedauert - gelingt es den anderen Toreros, den Stier mit ihren Capas fortzulocken. Erschrecken, Betroffenheit ringsum, keine Schadenfreude über das Pech Macarenos. Er wird mit einer 20 cm tiefen Wunde und gebrochenem Beckenknochen vom Platz getragen. Der zweite Matador dieser Corrida, Francisco Ruiz Miguel, geht an seiner Stelle in die Arena. Eine nervöse Spannung bemächtigt sich der Toreros und des Publikums und weicht nicht mehr von ihnen, auch wenn Tomás Campuzano, der dritte an diesem Nachmittag, sich gegen Ende noch zu einigen großartigen Suertes wird steigern können.
In den Figuren mit der Capa kann der erfahrene Torero seine Geschicklichkeit zeigen, den rasenden Stier zu verlangsamen und in ruhig fließenden Bewegungen an sich vorbeizulenken. Der Torero wird die Hörner so nahe an sich heranlassen, wie Selbstvertrauen, Mut und Geschicklichkeit es erlauben. Die Steigerung im rhythmischen Gegeneinander und Voneinanderweg, im Sich-Lösen und Wieder-Verschmelzen ist es, auf die das Publikum hofft. Wenn sie sich endlich ankündigt, wird es still auf der Tribüne, dann beginnt das Publikum zu raunen, schließlich unterstreicht es mit "Olé"-Rufen den Rhythmus, bis dann die Spannung sich im Beifall entlädt.
Währenddessen - es sind erst wenige Minuten seit Beginn der Corrida vergangen - reiten zwei Picadores ein, langsam, bedrohlich, vom Stier noch nicht bemerkt. Das rechte Auge ihrer [...] abgewetzten Pferde, der Innenseite der Arena und dem Stier zugewandt, ist zugebunden. Einer der beiden Picadores verharrt am Eingang, als Reserve. Denn was der andere tun wird, ist zwar nicht mehr das, was zu Hemingways Zeiten üblich war, aber immer noch gefährlich genug. Seit dem Erlaß der Regierung von Primo de Rivera im Jahre 1928 werden die Pferde durch einen gesteppten Umhang, ein Art Matratze, geschützt. Seither kann der Stier sie nicht mehr aufschlitzen, und damit gehen auch die Picadores nicht mehr zwangsläufig zu Boden. Durch Armbewegungen, Rufe und das Klappern mit dem blechernen Beinpanzer reizt der Picador den Stier zum Angriff. Dieser kann allerdings auch jetzt noch das Pferd samt Reiter hochheben und umstürzen, wenn es dem Picador nicht rechtzeitig gelingt, mit der gesenkten Lanze den Muskelhöcker im Nacken des Stieres zu treffen. Mit seinem ganzen Gewicht stemmt er sich auf die Lanze und gegen den Stier, der wütend und nutzlos die Matratze bearbeitet. Der "toro bravo"
8) würde sich bis zum Tod in die Lanze stürzen, wäre diese nicht mit einem Querstab versehen, der verhindert, daß sie tiefer eindringt, und würden die Toreros ihn nicht wieder mit ihren Capas ablenken. Das Publikum wird schnell unwillig, wenn der Picador den Stier an einer anderen, empfindlicheren Stelle als der vorgesehenen trifft oder zu oft zusticht. Dreimal wird der Stier mit der Lanze "gestraft", wie es heißt, dann verläßt der Picador auf das Signal des Präsidenten hin die Arena, ebenso lautlos und schattenhaft, wie er gekommen ist. Der Stier ist langsamer geworden, aber noch nicht ermattet. Die Flanken gehen sichtbar auf und nieder. Dunkel und naß glänzt das Blut auf dem schwarzen Fell. Kein harmloses Spiel mehr auch für ihn, sondern ein Spiel, das zugleich tödlicher Ernst ist.
Der Stier ist gefährlich geworden, denn er hat gelernt, gezielter und sparsamer anzugreifen. Da kommt ihm der Mann gerade recht, der jetzt ihm gegenüber in stolzer Pose sich streckt und auf die Zehen stellt, ohne Capa, mit hocherhobenen Armen, in jeder Hand eine Banderilla. Der Stier läuft an, der Banderillero ebenfalls, in einem Viertelkreis quer zum Stier. Dort, wo sie sich fast treffen, reißt er plötzlich die Füße zusammen, steckt die bunten Stöcke mit den Widerhaken in die Schultern des Stieres, an denen sie alsbald herabhängen, und dreht sich am Horn vorbei. Und ehe der Stier sich verdutzt schüttelt und sich um seine Körperlänge herumgedreht hat, ist der Banderillero außer Reichweite. Der Stier, irritiert, durch den neuen Schmerz heftig gereizt, stürzt sich auf eine lockende Capa, bis der nächste Banderillero sich ihm als Ziel präsentiert. Insgesamt dreimal vollführen die Banderilleros diese Täuschungsmanöver mit ihren Körpern, elegant und mit schwebender Leichtigkeit, und obwohl oder weil nichts hinter den wallenden Tüchern verborgen ist, bleibt die Sicherheit, mit der der Stier auch hier gefoppt wird, zunächst unerklärlich.
Während der Stier noch gegen die Capas rennt, geschieht es ihm, daß er und sein Tod jemandem geweiht werden: dem Präsidenten, einem Freund des Matadors, einer verehrten Schönheit oder dem ganzen Publikum. Der Präsident gibt seine Zustimmung. Der Matador trifft seine Vorbereitung. Das Publikum erhofft die vollendete "faena"
9). Der Matador läßt sich die Muleta, ein kleineres, an einem Stock gespreiztes rotes Tuch und einen leichten Degen aus Aluminium geben. Die Cuadrilla zieht sich zurück. Jetzt sind beide allein in der Arena, der Matador und der Stier. Dieser ist offenbar erschöpft, aber gerade deshalb gefährlicher als zuvor. Argwöhnisch geworden greift er nur noch auf kurze Distanz und überraschend an. Dann bleibt dem Matador nur ein kurzer Augenblick, in dem er den Stier in den Bann der Muleta zwingen muß. Hält er die Muleta zusammen mit dem Degen in der rechten Hand, kann er sie über diesen aufspreizen, so daß sie für den Stier ein größeres Ziel bildet. Aber die klassische und höher geschätzte Suerte ist der "pase natural"10), bei dem der Matador, die Muleta in der linken Hand neben dem Körper, den Stier von vorn erwartet. Mit diesem kleinen Köder, hinter dem sich der Mann nun nicht mehr versteckt, führt er den Stier an seinem ruhig stehenden, in elegantem Schwung nachgebenden Körper vorbei. Dabei schwenkt er das gesenkte Tuch möglichst langsam in der Linie des Angriffs in einem Viertelkreis um sich herum. Der Stier wendet, kommt zurück, wieder gebannt vom schwankenden Tuch, das ihm jetzt über den Kopf, die Hörner und den Nacken streicht und ihn an der Brust des Mannes vorbei ins Weite schickt. Immer näher muß nun der Matador herangehen, um den keuchenden Stier durch vorsichtiges Ziehen der Muleta zu verführen, immer enger werden die Viertelkreise von Mensch und Tier, die S-förmig gebogene, sich drehende Vertikale des Matadors und die nach der Muleta sich schraubende Horizontale des Stiers. Das alles verschmilzt, in seltenen Momenten der Vollendung, zu einem einzigen Bewegungsablauf. Im Wechselspiel des Tanzes und der Anfeuerung steigern sich Matador und Publikum in eine Ekstase hinein, eine Ekstase nicht nur der verströmenden Leidenschaft, sondern zugleich ihrer Bändigung, ihrer formvollendeten Ordnung.
Dieser Nachmittag des Ostersonntags in Madrid läßt freilich solche Möglichkeiten nur in einigen Suertes erahnen. Auch Tomás Compuzano, ein Künstler mit der Capa und ein überdurchschnittlicher Könner mit der Muleta, erweist sich als unsicherer Töter. Die Auflösung der Spannung, die er in der Faena aufgebaut hat, kommt abrupt und wie kalt berechnet. Er tauscht die Degenatrappe gegen einen wirklichen Degen aus. Der Stier steht jetzt reglos dem Mann gegenüber, der Kopf ist gesenkt und damit der Nacken entblößt. Etwa fünf Schritte entfernt schwenkt der Matador die Muleta, die er in seiner linken Hand nach unten hält, auf seiner rechten Körperseite. Kaum merklich folgt der Kopf des Stiers der Bewegung. Der Körper des Matadors strafft sich, der Degen und der rechte Arm bilden eine gestreckte Ziellinie. Dann geht er auf den Stier zu, streckt plötzlich den Körper über den gesenkten Kopf des Stieres, stößt den Degen zwischen dessen Schultern und führt zugleich den Stier mit der Muleta an sich vorbei. Sofort eilen die übrigen Toreros mit ihren Capas herbei, denn der Todeskampf macht den Stier unberechenbar. Doch der Degenstoß hat sein Ziel, die Aorta, verfehlt, und Campuzano bleibt nichts anderes übrig, als sich einen neuen Degen geben zu lassen, mit dessen Spitze er den ersten wieder herauszieht. Beim nächsten Versuch trifft der Degen auf einen Knochen. Erst der dritte Degenstoß ist tödlich. Der Stier beginnt zu taumeln. Schon reagiert er nicht mehr auf das Wedeln der Tücher. Dann bricht er zusammen und streckt die Beine von sich. Die Spannung weicht dem Applaus und dieser der Erschöpfung. Nach einer großen Lidia
11) fordert das Publikum eine besondere Ehrung für den Matador. Wenn die Mehrheit weiße Taschentücher schwenkt, muß der Präsident dem Matador ein Ohr als Siegestrophäe gewähren. Ob er ihm auch noch ein zweites Ohr oder, in seltenen Fällen, den Schwanz des getöteten Tieres zuspricht, liegt allein in seinem Ermessen, das sich auf das Urteil seiner Berater stützt. Heute aber ist nichts davon zu erwarten. Unter den Klängen eines Pasodoble zieht das Maultiergespann den Stier hinaus. Arenadiener glätten die Bahn, verwischen die Blutspuren, Trompetensignal - der nächste Stier.




1) "Plaza de toros": die Arena, in der die Corrida stattfindet.
2) "afición": [Vorliebe, Zuneigung, Anhängerschaft]. Hier: die Begeisterung für die Corrida. Ein "aficionado" ist ein Anhänger, ein Fan. Der Ausdruck kann auch im Zusammenhang mit anderen Beschäftigungen oder Veranstaltungen gebraucht werden, doch hat er im Zusammenhang mit der Corrida einen besonderen Akzent. Er bezeichnet hier einen Anhänger, der nicht nur zur Corrida geht, sondern wirklich etwas von Stieren, Toreros und der Kunst des Toreo
6) versteht.
3) "Alguacilillos": Beauftragte des Präsidenten
4) "Torero" ist die allgemeine Bezeichnung für den Mann, der sich in der Arena dem Stier entgegenstellt. Die Toreros arbeiten in einer Gruppe, der "cuadrilla". Sie unterstehen dem "matador", der den Stier tötet ("matar": töten). Für einen Matador arbeiten in der Regel drei "banderilleros" und zwei "picadores". Der Banderillero sticht die "banderillas" ein, zwei bunte, etwa 70 cm lange Stöcke mit Widerhaken an der Spitze; er arbeitet aber auch mit der Capa. Der Picador benutzt vom Pferd aus gegen den Stier die "pica", eine lange Lanze mit Stahlspitze.
5) "Capa": Umhang
6), 11) Obwohl es mißlich ist, eingebürgerte Bezeichnungen umzustoßen, vermeiden wir das Wort "Stierkampf" und verwenden statt dessen, je nach dem Zusammenhang, verschiedene spanische Bezeichnungen, insbesondere "Corrida", aber auch "Lidia" oder "Toreo". Der Grund dafür [...] wird im Text [siehe 8] erläutert. Soviel jedoch vorweg: Es gibt im Spanischen kein übergreifendes Wort, dessen Konnotationen sich mit denen des deutschen Wortes "Stierkampf" oder des englischen "bullfight" decken würden. Statt dessen gibt es eine Vielzahl differenzierter Ausdrücke mit spezieller unübersetzbarer Bedeutung. "Corrida", wörtlich: der "Lauf", ist die Kurzform für "corrida de toros", das Laufen der Stiere in der Arena, und bedeutet meistens die Veranstaltung als ganze, einschließlich aller Präliminarien. "Lidia" bedeutet den Kampf im Sinne der Gesamtheit aller Manöver, die dazu dienen, den Stier auf seinen Tod vorzubereiten. Die Corrida geht jedoch nicht darin auf. Die künstlerische Seite des Kampfes, ihre Form, ihre Eleganz und ihr Ausdruck der Beherrschung des Tieres durch den Menschen heißt "toreo".
7) "Suertes": wörtlich: Glück. Hier: jede Ausführung innerhalb des Toreo, soweit sie einer Regel folgt.
8) "Toro bravo": wörtlich: der tapfere, wilde Stier. Hier: der für die Corrida geeignete Stier.
9) "Faena": die Suertes, die der Matador im letzten Drittel der Corrida mit dem Tuch, das "muleta" genannt wird, ausführt.
10) "Pase natural": [...,  natürlicher Schwenk, natürlicher Pass.]


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Dr. Andreas Krumbein, 4. Oktober 2009